Jazz im Wandel(n)

Nürnberg – Die Nürnberger Biennale „Jazz Ost-West“ versteht sich seit 1966 als grenzüberschreitendes Festival: politisch, geographisch und stilistisch. Markenzeichen für dieses Festival ist stets eine samstägliche „Ambiente“ in der weitläufigen Meistersingerhalle mit drei bis vier Spielstätten zugleich. Man kann sich also ganz real durch diverse Konzertangebote „zappen“ – oder an einem einzigen Veranstaltungsort verweilen.

Als Generalthema der 17. Ausgabe der nordbayerischen Jazzfestspiele diente „Discover the exciting World of Jazz“, und da ging es im Großen Saal mit den Gruppen des libanesischen Oud-Zupfers Rabih Abou-Khalil und des indischen Perkussionisten Trilok Gurtu (beide Künstler haben Deutschland zu ihrer Wahlheimat auserkoren) orientalisch-vital zu, bevor der schwarze britische Saxophonist Courtney Pine mit Scratchern und Samples HipHop-Elemente in den Jazz einbrachte.

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Courtney Pine

Im Kleinen Saal sorgte dagegen das „Moscow Art Trio“ (mit dem nun in Oslo lebenden Pianisten Mikhail Alperin, dem Flügel- und Waldhornisten Arkady Shilkloper, und dem singenden Klarinettisten Sergey Starostin) für frenetischen Publikumszuspruch: eine ganz individuelle Mixtur zwischen klassischer Disziplin in auskomponierten Parts und folkloristischer Direktheit.

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Arkady Shilkloper

Der universelle Shilkloper, der einst im Orchester des Bolschoi-Theaters spielte, integrierte sich anschließend in das Quartett „Ocre“ von Sylvie Courvoisier. Die schweizerische Pianistin unterstrich auch in Nürnberg ihr Faible für die avantgardistischen Neutöner Ligeti und Stockhausen.

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Sylvie Courvoisier

Akustisch vom allgemeinen Trubel nicht abgeschottet mußten sich währenddessen drei Duos behaupten: Die beiden Franzosen Michel Portal (Klarinetten, Saxophone, Bandoneon) und Richard Galliano (Akkordeon) vollführen erfolgreich ihre ganz eigene Variante einer „imaginären Folklore“. Als seit Jahren eingespieltes Team präsentierten sich auch der Posaunist Albert Mangelsdorff und der Pianist Wolfgang Dauner. Der nun in Köln wohnende Altsaxophonist Lee Konitz ließ zusammen mit dem von Woodstock nach Frankfurt zurückgekehrten Heidelberger Pianisten/Vibraphonisten Karl Berger vertraute Standards cool angehen.

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Lee Konitz

Viel Rummel dagegen auf dem neu installierten „Jazz Market“. Das Quartett des italienischen Saxophonisten tönte im Foyer lautstark auf Zigeuner-Swing und Klezmer-Art. Außerdem im permanenten Angebot: von Krystian Brodacki ausgesuchte Jazz-Filme, kostenfreies Internet-Surfen, CD-Stände, Bilder-Ausstellungen.

Ein weiteres Wandelkonzert ließ bereits einen Tag zuvor das Publikum aufsplitten. Als „top acts“ fungierten der lyrisch und impressionistisch in die Klaviertasten greifende Südafrikaner Abdullah Ibrahim alias Dollar Brand, der zwischen Blues und Pharoah-Sanders-Hymnen kreischende Saxophonist James Carter und der Kubaner Arturo Sandoval – ein kraftstrotzender Trompeter und ein temperamentvoller Sänger. Parallel dazu „Sticks & Drums“ mit dem Nürnberger Wolfgang Haffner, der mit dem New Yorker Gitarristen Chuck Loeb eine „Unit“ formierte, dem Türken Okay Temiz samt osmanischer Volksmusik und Bobby Previte, der wieder „Latin for Travellers“ offerierte.

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Chuck Loeb

Kein Wunder, daß das Publikum nach dem massierten Angebot in der Meistersingerhalle zu ermattet war, um zu mitternächtlichen Stunden (mit und ohne Bus-Shuttle) das Angebot „Jazz all over the Town“ anzunehmen. Zwar lockten im legendären „Komm“ die amerikanischen Alt-Stars Les McCann und Johnny Griffin viele Besucher an, doch der in Japan so populäre Terumasa Hino trompetete im traditionsreichen Club „Jazz Studio Nürnberg“ vor ziemlich leeren Reihen.

Ungeteilte Konzentration wurde hingegen den Künstlern in der Tafelhalle zuteil. Herausragendes leistete beim von Fernsehen mitgeschnittenen Konzert „New Voices in Jazz“ der Kölner Peter Fessler: faszinierend seine durch Obertonmodulationen bewirkte „Stimmungen“ und seine reizend-reißerische Scat-Improvisationen.

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Peter Fessler

Betulich sang zuvor die adrette Kanadierin Melissa Walker nette Balladen, energisch zur weltmusikalischen Sache ging schließlich die Holländerin Greetje Bijma.

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Melissa Walker

Das Abschlußkonzert der fünf Jazztage vermittelte „Messages from the East“. Saxophonist Luten Petrowsky, der sich einst als „dienstältester Jazzer der DDR“ bezeichnete, changierte zwischen deftigem Blues und wildem Free Jazz, während der ungarische Gitarrist Ferenc Snetberger virtuos auf den Spuren von Django Reinhardt wandelte. Ein Spagat zwischen aboriginalem Didgeridoo-Gebläse des Australiers Adrian Mears und Klageliedern samt Kontrabaß-Streichen des Polen Vitold Rek gelang dem Quartett „East West Wind“.

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East West Wind

Bei aller Internationalität vergaß die fränkische Metropole nicht die Musiker der eigenen Region. Der Baßklarinettist Rudi Mahall tat sich mit der Pianistin Aki Takase, der Gitarrist Marco Piludu kooperierte mit Termusa Hino. Hohen Aufmerksamskeitswert erhielten der Saxophonist Lutz Häfner und der Posaunist Nils Wogram, die sich den erstmals vergebenen und insgesamt mit 10 000 DM dotierten „Nürnberger Jazzpreis“ teilten. Sollte zukünftig der rührige Walter Schätzlein bei Programmgestaltung und Organisation nicht mehr in vorderster Front stehen (als neuer Festival-Leiter fungierte erstmals Michael W. Bader), so bleibt die Aufgabenstellung und Bedeutung des drittältesten Jazz-Festivals Deutschlands bestehen. Mit 9 500 bezahlenden Besuchern kam heuer weniger Publikum als im Rekordjahr 1996, vielleicht wurden bei der fränkischen Informationsbörse swingende „Mega-Stars“ vermißt…

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