Auch ein ganzer Festivalabend konnte nicht vollständig die fast unendlichen künstlerischen Facetten von Charlie Mariano nachzeichnen. Faszinierend bleibt, was der nun 73jährige amerikanische Altsaxophonist bereits geleistet hat und sich unvermindert vergnügt neuen musikalischen Herausforderungen stellt. Das Eröffnungskonzert im ausverkauften Beethovensaal (Kultur- und Kongreßzentrum Liederhalle) der diesjährigen JazzOpen machte mit dem Begriff Jazz wirklich Ernst und demonstrierte schließlich die (Welt-)Offenheit dieser tönenden Kultur.
Bei den „American Roots“ wirkte die Sängerin Dianne Reeves mit, Arabisches mit dem libanesischen Oud-Zupfer Rabih Abou-Khalil, Indisches mit dem Perkussionisten Trilok Gurtu, Europäisches mit dem Stuttgarter Pianisten Wolfgang Dauner, Argentinisches mit dem Bandoneon-Virtuosen Dino Saluzzi. Ein freundliches Jazzfamilientreffen ohne jedweden Starkult.
Nach dem ihm gewidmeten Themenabend äußerte sich Charlie Mariano weltweit abrufbar im Internet: „Vor dem Konzert dachte ich, das Konzert würde mir etwas Stress bringen, weil ich keine Möglichkeit zu proben hatte. Aber alles wurde großartig, und ich danke den wunderbaren Musikern, die kamen und mit mir spielten. Es war toll!“
Improvisationslos und als abgekartetes Spiel das Konzert am darauffolgenden Tag. Die pan-populistische und nabelfreie Mädchen-Gruppe „Zap Mama“ lieferte ein Hipgehopse, welches sich klamaukhaft gerne afrikanischer und arabischer Kulturen bediente. Eine Darbietung, die optisch interessanter war als musikalisch überzeugend. Der soulige Tieftöner Isaac Hayes enttäuschte mit dem bloßen Abspulen seiner bekannten Hits auch seine eingefleischten Fans. Dieses Freitagskonzert brachte den Jazzfans keine neuen Erkenntnisse und den Veranstaltern keinen Run auf die Kartenkassen.
Das Samstagskonzert der JazzOpen hätte eigentlich für Khaled die große Show werden sollen, der im französischen Exil residierende Algerier sagte einen vertraglich festgelegten Auftritt jedoch wieder einmal kurzfristig ab. Der „König des Rai“ entwickelt sich immer mehr zu einem Schreckgespenst nicht nur für Veranstalter. Noch keine Klarheit herrschte bei den Festivalmachern, wie hoch der finanzielle Verlust ist – eine gerichtliche Klärung einer angemeßenen Konventionalstrafe dauert aller Erfahrung nach Jahre.
Immerhin bescherte der plötzliche Khaled-Totalausfall dem Festival einen musikalischen Höhepunkt: das mit der aktuellen CD „My People“ erfolgreiche „Joe Zawinul Syndicate“. Die neuformierte Band des seit 1959 in Amerika lebenden Österreichers Josef Erich Zawinul hatte eigentlich gerade eine Europa-Tournee beendet und wollte zurück in die Staaten düsen. In aller Eile konnten die Flüge umgebucht und ein Termin in Stuttgart angehängt werden. Auf dem Pariser Airport verpasste der aus der Elfenbeinküste stammende Schlagzeuger Paco Sery zu guter Letzt seine Maschine – schneller Ersatz war gesucht. Man dachte da zunächst an den baden-württembergischen Jazzpreisträger Michael Kersting, der schon bei der Legende Chet Baker trommeln durfte.
Der Zufall wollte es, daß David Haynes, neuer Drummer bei Prince, von Aschaffenburg angereist war und eine Stunde vor Beginn des Doppelkonzertes am Künstlereingang nach seinen Kollegen suchte. Flugs wurde der Farbige für das Konzert verpflichtet – völlig ohne gemeinsame Proben. Zawinul gab ihm auf dem Podium mit dirigentischen Gesten klare Anweisungen, und David Haynes reagierte phantastisch. Gleich nach dem ersten Stück bedankte sich der 65jährige Bandleader mit einem herzlichen Händedruck bei dem Newcomer. Zawinul, in dessen Adern übrigens bulgarisches Zigeunerblut fließt, vollführte eine überzeugende Symbiose von Musikkulturen der Welt. Anstatt Starre und Kommerz-Entertainment nun ein Kunst mit menschlichem Atem und unmittelbarer Flexibilität, mit echten Interaktionen und wachen Kommunikationen, mit Spannungsbögen und Differenzierungen in Dynamik und Tempi.
Menschliche Wärme allenthalben, auch wenn Keyboarder Zawinul ein ausgebuffter Techno-Freak ist. Aus Synthesizer und Sampler zaubert er Klänge von der in Hamburg erfundenen Harmonika, von karibischen Steeldrums oder vom indischen Saiteninstrument Sarod. Digital abgespeichert sind noch Wortfetzen, die ebenfalls geschwind in den musikalischen Ablauf integriert werden. Und dann profiliert sich Joe Zawinul als Vokalist: da singt der Ex-„Weather Report“-Mann in der afrikanischen Sprache Bambara oder im österreichischen Dialekt. Ein vergnüglicher Wiener Schmäh, der Lebensgeschichten erzählt und die Gedanken eines Kartoffel-Gourmets über die geliebten „Erdäpfel“ preisgibt. Eine intelligente Lachnummer.
Die Entdeckung der Neubesetzung von „Syndicate“ kommt aus Kamerun: Richard Bona spielt virtuos auf der bundlosen Bassgitarre und bewährt sich als leidenschaftlicher Sänger – wenn es sein muß, auch mit Fistelstimme. Das hispanische Moment brachte mit Congas und im Flamenco-Flair dröhnendem Vokalorgan Manolo Badrena (Puerto Rico) ein, während der New Yorker E-Gitarrist Gary Poulson besten Jazzrock praktizierte.
Eine junge Dame, welche geistig nicht auf der Höhe der Programmabänderung war, rief bei der dezenten Zawinul-Performance lautstark nach dem Pop-Idol Khaled und verlangte dessen Hit „Aicha“, bevor sie ganz in tänzerische Trance verfiel. Aufmerksam sitzende Besucher und die vor der Bühne kauernden Fotografen mußten derweil hoffen, daß der oft sehr nieder und rasant geschwenkte Kamerakran sie nicht kopflos machte…
Angefangen hatte der Abend mit den multinationalen „Dissidenten“, angeführt von dem deutschen Bassgitarristen Uwe Müllrich. Das Ethno-Ensemble konzentrierte sich vorwiegend auf arabische und indische Musik, alles war präzise vorgeplant, nur wenige Improvisationen steuerte Querflötist und Sopransaxophonist Friedo Josch bei. Gesungen wurde nach antiker Hippie-Art von „Krishna“, die „Strawberry Fields“ der Beatles hinterließen ihre melodischen Spuren, namentlich „A Love Supreme“ (ganz ohne Coltrane-Bezug) verkam zum Vierviertel-Stampf. Eingängige Musik für rhythmisierte Bewegungshungrige auf Bühne und im Parkett.
Ohne Blues(-Feeling) kein Jazz: am vierten und letzten Tag der JazzOpen kam im Stuttgarter Kultur- und Kongreßzentrum Liederhalle dieses afroamerikanischen Liedgutes zum Zuge. Dem verdienten Veteranen Riley B(lues) B(oy) King, geboren am 16. September 1925 in Itta Bena (Mississippi), stand der vielgepriesene „shooting star“ Kevin Moore alias Keb‘ Mo‘ gegenüber. Nach den zwei vorangegangenen mehr der Weltmusik zugetanen Abenden war jetzt der Beethovensaal besser gefüllt. Siggi Kögel vom Organisationsteam hätte nicht geglaubt, daß gerade das relativ „reine“ Jazzkonzert mit Charlie Mariano sich als Ausverkaufsknüller erweisen sollte.
Kevin Moore kam in Los Angeles zur Welt, und wie bei vielen Gesangsgrößen wuchs auch er mit Kirchenmusik auf. In den siebziger Jahren arbeitete er in Studios, 1980 legte er das weniger beachtete Album „Rainmaker“ vor. Einen großen Durchbruch feierte der Gitarrist mit der CD „Just Like You“. Die Scheibe mit dem balladenhaften Titelstück wurde ja mit einem Grammy ausgezeichnet. Keb‘ Mo‘ beschränkt seinen Blues nicht auf das konventionelle 12-Takte-Schema. Er läßt außerdem Rockrhythmisches und Country-Music einfließen und bringt den folkloristischen „finger picking“-Stil ein. Abwechslung auch im besaiteten Instrumentarium: die Gitarren-Varianten reichen von der Elektro- und Akustik-Version bis zur Ausführung mit einem banjoartigen Stahlkorpus. Dazuhin blies er in Stuttgart die Mundharmonika und wartete mit kräftig-klarer Stimme auf. Als Alleinunterhalter und mit seinem Quartett, in dem die Keyboarderin Joselin Friedkin noch ein Akkordeon kommode quetschte, schaffte er den Spagat zwischen fetzenden Nummern und besinnlichen Weisen.
Bei B. B. King groovte vorneweg schon das Bläsertrio: zwei strahlende Trompeter und der wendige Tenorsaxophonist Melvin Jackson. Selbst mit 71 Jahren vermittelte der „King of Blues“ in gekonnter Showmanship lautstark überschäumende Lebensfreude: „Let the good times roll!“. Der Altmeister spielte im Beethovensaal übrigens mit seiner 26. „Lucille“ -Gitarre, einer „Gibson 335“. Etwa 250 Konzerte jährlich gebe er noch, bekannte er in einem „online“-Interview (Zugangsadresse: http://www.jazzopen.de). Zu einer spekulierten Session mit Keb‘ Mo‘, der B. B. King als wichtiges Vorbild nennt, kam es dann freilich nicht. Aufgekratzte Stimmung beim vor der Bühnenrampe stehenden Publikum, das beim Bluesabend eifrig mitklatschte. Ätzende Kritik dagegen in einem hastig verfaßten Internet-Rundschreiben: „Was B. B. King bei den JazzOpen bot, war die völlige musikalische Banalität von Anfang bis Ende, und seine Band tat es ihm darin nach – eine müde, routinierte Combo, für die sich in einem drittklassigen Nachtklub keine Hand zum Beifall rühren würde.“
Was bleibt von den „JazzOpen Stuttgart ’97“ hängen? Sicherlich die nette Würdigung des Lebenswerkes von Saxophonist Charlie Mariano sowie der kompakte und gewitzte Auftritt vom vielsprachig singenden High-Tech-Keyboarder Joe Zawinul. Nachwirken wird das Festival in Fernsehsendungen von „Südwest 3“, „Arte“, „3sat“ von dem amerikanischen Kabelkanal „BET On Jazz“, dessen Spokesman kein Geringerer als der Pianist Ramsey Lewis ist.