tag eins / aufklären
die neue leiterin nadin deventer überlässt die programmatische eröffnung unangekündigt bonaventure soh bejeng ndikung („was jazz tun kann in dunklen zeiten“). nach 20 minuten lecture performance regt sich protest: „music, please!“
ein teil des 100% weißen jazzfestpublikums möche den schwarzen referenten von der bühne wegpöbeln. ein sehr unangenehmes gefühl. als nach dem konzert deventer auftritt, um ihr publikum zu begrüßen, steht ein drittel einfach auf und geht raus.
das haus der berliner festspiele ist als „house of jazz“ umgebaut. auf engstem raum, teilweise auf sichtweite, aber akustisch getrennt, vier orte: saal, nebenbühne, unterbühne, kassenhalle. zwischen black earth ensemble und dem exploding star orchestra 2,5 stunden zeit für diverses ein- und auftauchen. mary halvorson spielt mit michael formanek und tom fujiwara standards, ihre töne steigen auf oder kippen weg, formanek hat einen wackler im pick-up, man hört deshalb nur jeden zweiten ton. in der kassenhalle rumpeln jungen bands aus berlin und der schweiz rockistisch vor sich hin. im keller stehen musiker*innen des kollektivs KIM, sie haben masken auf und stehen unter einer drehbühne im rund in nischen, formatieren die sounds aus den anderen räumen neu, fügen sparsam etwas hinzu, wirken geheimnisvoll. ein berliner undergroundbezug auf das aacm, ein kollektiv ohne ort, dass das jazzfest infiltriert, unterwandert, verunsichert, einhüllt. auf der seitenbühne unterhalten sich hamid drake und yuko oshima, spielen dabei auf zwei drums, reflektieren, flirten mit der show. „drums are fun.“ danach setzt rob mazurek eine sonnenbrille auf, der gitarrist julien desprez steht im löchrigen t-shirt im halbrund seiner effektpedale, schmiegt sich um kornettlinien, bis die beiden kollegen seiner band abacaxi dazukommen. mazurek geht mit einer letzten melodiephrase ab und die drei jungs zerfetzen groovend grooves. desprez hat auch das bühnenlicht an sein pedal angeschlossen, jeder akkord ein blitz, wenn er pause macht, spielen bass und schlagzeug im dunkeln.
chicago-kollektive. nicole mitchell und rob mazurek sind keine alphatiere, sondern freundliche, integrative, zuhörende menschen. mitchell steht ganz rechts in ihrem ensemble, verdeckt niemanden, dirigiert über blickkontakt. sanft und doch beharrlich fließt die musik aus merkwürdigen sonischen quellen, banjo und harfe, querflöte und shakuhachi, große japanische trommel und gestreichelter holzblock. ganz links sitzt ein sänger, avery r. young. 30 minuten wiegt er sich nur in der musik, dann wiederholt er 20 mal „we keep doing the same things over and over again“, spricht plötzlich in fremden zungen, die die frage stellen, warum sich aus erfahrungen alltäglicher struktureller gewalt kein widerstand bildet, springt auf, pustet in den vorhang, hyperventiliert. mitchell beendet den auftritt und reicht ihm wasser. mazureks chicago-berlin-ausgabe des exploding star orchstestras ist ein mühelos in vier tage zusammengestellter flow aus echtzeitmusik und rollenden grooves, alles ist doppelt und nichts ist zuviel. hamid drake UND chad taylor. nicole mitchell UND sabine vogel. rob mazurek UND jaimie branch. damon locks sitzt an einem tisch, zeichnet, wirft die blätter wieder vor sich, skandiert space chants in einen telefonhörer. ein bad im sound, mit funkelnden spitzen und sanfter vorwärtsbewegung. neutrales bühnenlicht, keiner wird durch einen spot vereinzelt.
bonaventure soh bejend ndikung hatte die lichtmetapher der aufklärung bemüht und von den heute (wieder) unsichtbar werdenden gesprochen. die im licht sehen nichts mehr. die im dunkeln gewöhnen sich, spüren die gemeinschaft und beobachten genau, worauf das licht fällt.
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