Jazz mit Klasse ist nix für die Masse

Die JazzOpen Stuttgart 2008 offerierten wieder viel Popkultur

James Carter

Nach dem Rock-Gitarristen Lenny Kravitz und dem singenden Komponisten Mike Batt kam auf dem Pariser Platz erst am dritten Festivaltag eigentlicher Jazz auf. Freilich auch hier eine freundliche Musik, die nirgends aneckt – auch wenn mal atonale Sounds auftauchen und ein starres Metrum ausbleibt. Im Bankenareal beim Stuttgarter Hauptbahnhof gaben sich zwei singende Instrumentalisten ein harmonisierendes Stelldichein: der Saxofonist Curtis Stigers und der Trompeter Till Brönner.

Im Vorjahr konzertierte der Amerikaner Stigers bei den „JazzOpen“ noch im Club „BIX“, nunmehr durfte der Macher des im langsamen Dreivierteltakt gehaltenen Hits „I Wonder Why“ auf der Haupttribüne ran. Und da ließ Stigers mit seiner im Timbre oft an Ray Charles erinnernden Stimme nicht nur Rührseligkeiten hören. Furiose Scat-Improvisationen und die modischen Tricks einer Drum-Machine aus der menschlichen Kehle beherrscht der 1965 im amerikanischen Bundesstaat Idaho Geborene gleichfalls. Daneben vermag er in bester Hardbop-Manier mit seinem Tenorsax zu röhren.

Aggressivere Töne bescherte scharfzüngig und growlend auch Trompeter Jon Snider. Als musikalische Wasserträger bei den angejazzten Versionen von Elvis Presley, Bob Dylan, Randy Newman und Joe Jackson popularisierten Songs fungierten zudem Pianist Matthew Fries, Bassist Cliff Schmidt und Drummer Keith Hall.

Der smarte Till Brönner hatte schon Tage zuvor angekündigt, dass er in Stuttgart wohl bei Curtis Stigers „einsteigen“ werde (und umgekehrt). Nun zelebrierten die beiden Stars vom internationalen Weichspül-Jazz vereint eine rasante Bebop-Nummer – Charlie Parkers „Billie’s Bounce“. Eine angenehme Alternative.

Till Brönner selbst machte mit seinem Sextett die Coolness eines Chet Bakers vergessen und stieß diesmal mehr rockjazzig ins Horn, wobei er sich ohrengefällig an „Bitches Brew“ anlehnte. Der virtuose Trompeter vom Jahrgang 1971 gilt ohnehin als stilistisches Chamäleon, das althergebrachte Genre-Grenzen schlichtweg negiert und dabei beträchtliche kommerzielle Erfolge einheimst. Nach Hildegard Knef, den „No Angels“, Carla Bruni-Sarkozy (!) und Thomas Quasthoff sowie Weihnachtsliedern hat es ihm nun erneut brasilianischer Bossa-Nova angetan. Von seiner neuen „Rio“- CD interpretierte Brönner live die weltbekannten Standards „Cafe Com Pao“ und „So Danco“, wobei er noch seine einschmeichelnde Stimme einsetzte.

Bei seinem schnellen „Bumpin’“, das es inzwischen sogar als Handy-Klingelton zu kaufen gibt, schmuggelte Till Brönner verschmitzt und gewitzt improvisatorisch „Singing In The Rain“ ein, als es zu tröpfeln begann und das (Jazz-)Open-Air-Publikum schon den nächsten Regenschauer befürchtete. 

Till Brönner dominierte als Instrumentalist und als Vokalist das musikalische Geschehen, doch blieb ein interaktiv sehr reizvolles und keineswegs reißerisches Duo des Perkussionisten Roland Peil mit dem fränkischen Schlagzeuger Wolfgang Haffner haften. Keyboarder Daniel Karlsson bevorzugte Blockakkordisches, der ebenfalls aus Schweden stammende Gitarrist Johan Leijonhufvud kreierte Fusion und Funk. Mit dem Badenser Dieter Ilg stand Till Brönner ein erfahrener und zuverlässiger Kontrabassist der Jazzszene zur Verfügung.

Die Konzerte von Till Brönner und Curtis Stigers wurden vom SWR-Fernsehen mitgeschnitten und kommen in der Nacht vom 9. auf den 10. August 2008 ab 2.55 Uhr in zwei einstündigen Sendungen von „3sat“ zur Ausstrahlung.

Diana Krall spielte und sang noch bei einem ausverkauften Konzert vor fast dreitausend Zuhören, doch am Tag danach zeigten sich die Stuhlreihen auf dem Pariser Platz reichlich gelichtet. Grund mag sein, dass die immerhin mit einem Grammy ausgezeichnete Sängerin Patti Austin buchstäblich als „Lückenbüßerin“ sehr spät ins Programm aufgenommen wurde und am gleichen Abend in der Mercedes-Arena sich JazzOpen mit der kreativen Vokalistin Dianne Reeves selbst Konkurrenz machte.

Da Patti Austin direkt aus Montreux kam, wo sie als Jurymitglied tätig war und noch mit ihrem „Paten“ Quincy Jones, dem Trompeter und erfolgreichen (Michael-Jackson-)Produzenten, bis ins Morgengrauen nachträglich dessen 75. Geburtstag feierte, konnten keinerlei Proben mit der SWR Big Band durchgeführt werden. Das Jazzorchester hatte zuvor die von Patrick Williams gefertigten Arrangements der mit den Kollegen vom Westdeutschen Rundfunk 2002 eingespielten CD „For Ella“ eben ohne den Gaststar einstudiert.

Jetzt klappte doch alles wie am Schnürchen – aber wirklich große Momente blieben aus. Die 1950 in New York geborene Mezzosopranistin interpretierte ihre Songs mit gewohnter Leidenschaft, sie scattete auch, allerdings improvisierte sie nie einen Chorus. Viel erzählte Patti Austin in Stuttgart von Ella Fitzgerald und noch mehr kopierte sie das einmalige und unerreichbare Vorbild. Beispielsweise bei dem Schlager „How High The Moon“, bei dem sie Charlie Parkers auf der selben Harmonieabfolge basierendes „Ornithology“ integrierte.

Der Pianist Olaf Polziehn leitete nun die Big Band vom Südwestrundfunk, und mitunter begleitete er Patti Austin mit ausgeprägtem Rubato alleine an den 88 Tasten, so bei George Gershwins „The Man I Love“. Insgesamt eine muntere Abfolge von gefühlsbetonten Balladen und belebten Up-Tempo-Stücken, wobei zunächst Karl Farrent mit gestopfter Trompete der einzige Bläser-Solist sein durfte. Nur eine Stunde währte das reguläre Konzert, mehr Spaß und schöpferische Unmittelbarkeit kamen in den Zugaben („Who Cares“, „Funny Face“) auf. 

Als Opener fungierte am fünften Festivaltag der gutlaunige Afroamerikaner Karl Frierson, der sein Herz dauerhaft in Heidelberg verloren hat. Der „DePhazz“-Mann präsentierte hier seine achtköpfigen Band „Soulprint“. Ein kraftvoller Shouter, der nicht nur Soul- und Funk-Stereotype praktiziert, sondern auch Eigenes (gar auch textlich) zu extemporieren vermag. Selbst abgedroschenen Songs wie „Dock Of The Bay“ gewann der agile Rhythmiker verblüffende Nuancen ab. Der Gitarrist Werner Acker, der seine Karriere bei der „Jazz Crew“ an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg begann, 1984 gar am renommierten „Berklee College“ in Boston studierte und nun an der Stuttgarter Musikhochschule doziert, demonstrierte in seinen Soli stete Jazz-Vitalität. Nur am Schluss betätigte sich auch der Trompeter Igor Ruditzky improvisatorisch – mit schmetternder Flatterzunge und ausdauernder Zirkularatmung.

Den inbrünstigen Ohrwurm „Street Life“ setzt man zunächst mit Randy Crawford in Verbindung. Schöpfer des Diskothekenhits vom 1979 ist Joe Sample, der mit der Formation „The Crusaders“ nach der Swing-Ära wieder jazzartige Musik zum Tanzen präsentierte – jetzt mit Soul und Funk. Die reanimierten Crusaders spielten am vorletzten Festivaltag auf dem Pariser Platz zusammen mit dem schwedischen Posaunisten Nils Landgren, der auch seine eigene Formation mitbrachte.

Mehr als ein Ersatz für den „ziehenden“ Blechbläser Wayne Henderson der Ur-Formation ist der virtuose und allgegenwärtige Landgren gewiss. Von den „alten“ Jazz Crusaders wirkt jetzt nur noch der Tenorsaxofonist Wilton Felder mit kernigem und markigem Spiel mit. Samples Sohn Nick bedient nunmehr die Bassgitarre, wogegen Ray Parker Jr die ganze Bandbreite technisch-elektronifizierter Tricks der E-Gitarre drauf hat und auch mal einen Jimi Hendrix aufheulen lässt. Recht traditionell verhielt sich hingegen am Schlagzeug Forrest Robinson.

Überaus geschwätzig mit seinen vielen Anekdoten benahm sich Joe Sample, als er von seiner furchtsamen Begegnung mit dem Max-Schmeling-Kontrahenten Joe Louis, dem er eine Ballade widmete, oder von der kuriosen Geschichte der Hymne „Way Back Home“ seines Freundes Wilton Felder erzählte. Wenigstens blieb man bei der Performance dieser neuen „Crusaders“ von simplem Singsang verschont.

Ganz anders verlief es bei Nils Landgrens „Funk Unit“. Da wurden einhämmernde Riffs exzessiv im Chor gebrüllt und auf primitive Publikumsanmache gezielt. So drängten sich die schwäbischen Fans tänzelnd vor an die Bühnenrampe. Mit bei dieser „Party“ war wieder Gitarrist Ray Parker Jr. Wie Ian Anderson von „Jethro Tull“ sang und blies luftig Tenorsaxofonist Magnus Lindgren in seine expressive Querflöte. Adam Karsnas sprang für den regulären Drummer Wolfgang Haffner ein und agierte weitgehend punkhaft starr. Flexibel und elastisch hingegen agierte der aus Neuenbürg stammende Trompeter Sebastian Studnitzky, der vor zwei Jahrzehnten seine Karriere im Jugendjazzorchester Baden-Württemberg begonnen hatte, und nun gar auf dem Keyboard glissandierend glänzte. Die musikalische Konzeption hatte Nils Landgren, inzwischen zeitweise Künstlerischer Leiter vom JazzFest Berlin, seiner CD „Licence To Funk“ entnommen.

Schlussendlich nochmals eine Kooperation der „Funk Unit“ mit den „Crusaders“: „The Same Old Story“. Da zogen die mobilen Musikanten wie eine „marching band“ von der Bühne und ließen am E-Piano Joe Sample (Jahrgang 1939) solo zurück, der dann ganz jazzhistorisch „stride“ in die Tasten griff.

Eine akustische Kostprobe von Nils Landgren enthält auch ein mit sehr schönen Fotos von Rainer Pfisterer versehenes Doppelalbum, das zum 15-jährigen Bestehen der JazzOpen vom Veranstalter „Opus“ veröffentlicht worden ist.

JazzOpen ist bekanntlich nichts für Jazzpuristen. Doch gute und eindringliche Jazz-Momente konnte man wieder in der heimeligen Club-Atmosphäre vom Lokal BIX im Gustav-Siegle-Haus erleben. Da trat nach Sample und Landgren 40 Minuten vor Mitternacht der Saxofonist James Carter auf und gewann mit freejazzigen „sheets of sounds“ aufmerksame Zuhörer.

Bei insgesamt 44 Konzerten verbuchte das von Jürgen Schlensog und Professor Mini Schulz verantwortete Festival insgesamt 26 000 Besucher. Freilich: Die meisten Gäste lockte nicht der Jazz in Reinkultur an, sondern Paul Simon, Chicago und Lenny Kravitz.

Till Brönner & Curtis Stigers

Till Brönner

Curtis Stigers

Patti Austin

Patti Austin mit der SWR Bigband

Nils Landgren

Joe Sample & Wilton Felder

Joe Sample

Nick Sample

Sample, Carter, Studnitzky, Landgren

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