Count Basie spielte die reinste Form des Swing. Er trat den Beweis an, dass Jazz in diesem Sinn zu tun hat mit der rhythmischen Elastizität des musikalischen Materials und dem Umgang der Band damit. Count Basie beherrschte auf diese Weise ein großes Orchester mit seinen sparsamen Akkorden auf dem Piano und ein paar Fingerschnippen. Die Fans kennen diese Achterbahnfahrten des Basie-Orchesters. Da türmt sich ein Soundgebirge auf, das von 13 Mann in einem Ton gebündelt zusammengefügt scheint und das mit geballter Wucht zusammenfällt. Dann brechen urplötzlich mit einer kleinen Geste des Bandleaders die Tutti ab und nur noch der Puls der Rhythmusgruppe ist hörbar – der Puls der legendären „All American Rhythm Section“.
William Hughes spielte mit Unterbrechungen seit 1956 bei Count Basie Posaune. „Mr. B.”, wie er genannt wird, hat das Konzept der 1984 kurz vor Vollendung des 80. Lebensjahres verstorbenen Swing-Legende verinnerlicht. Das Count Basie Orchestra, das “Bingen swingt“ am dritten Tag abschloss, orientiert sich an seinem Namenspatron. So widmen sich die 17 Musiker dem präzise arrangierten und kontrolliert gespielten Powerplay. Extreme Dynamiksprünge, perfekt in Time, sowie vielfältige harmonisch ausgefeilte Soundeffekte mit raffinierten Klangfarben verbinden sich mit der rhythmischen Basis, in der ein Schlagzeuger das Tempo vorgibt, der schon die originalen Basie-Bigbands vor sich hertrieb – Butch Miles. Mit stets breitem Lachen trommelt und schlägt er auf den Snares und Becken die schnellsten Wirbel und leistet ganze Fußarbeit.
Glänzende Solisten wie der Trompeter William Scotty Barnhart, die Saxofonisten Doug Miller und Marshall McDonald und der Posaunist Alvin Walker färben den Sound des Orchesters mit starken Pinselstrichen, und Bassist James Leary darf zum Solo sogar sein mächtiges Instrument vor das Orchester tragen, wo er mit vielen harmonischen Wendungen und einem straight gezupften Finale den „Good Time Blues“ gestaltet.
Pianist Tony Suggs gibt dem Patron die Ehre. Mit ökonomischem Spiel füllt er die Intros und die Satzwechsel, während Hughes das Orchester mit kleinen Handbewegungen zu führen scheint. Dass dies ein so gut eingespieltes Ensemble kaum noch benötigt, bewies eine kleine, wohl kaum mehr als drei oder vier Jahre alte, rothaarige Gör, die sich mit Hughes gemeinsam im Takt wiegt und den Bandleader so sehr fasziniert, dass er das Orchester noch antreiben will, als dieses schon den Schlussakkord spielt.
Etwas zwiespältig war der Eindruck, den der Sänger Chris Murell hinterließ. Kraftvoll im Blues und in schnellen Bebop-Themen, aber mit zu viel Schmelz in den Balladen und Songs offenbarte er zwar viel Stimmvolumen und Ausdrucksstärke, neigte aber doch zu sehr zu Sentimentalitäten.
Vor dem Basie Orchestra verbanden die Mitglieder der aus Ungarn stammenden Lakatos-Familie explosiven Bebop mit dem Swing eines Django Reinhardt und der Balkan-Folklore. Tony Lakatos (Tenorsaxofon), Roby Lakatos (Violine), Sachi Bela Lakatos (Piano), Andras Lakatos (Schlagzeug) und der erst 14-jährige Kristian Lakatos (Bass) schlugen den Bogen von der berühmten Ballade „Body and soul“ bis zu „Django“ und „Nuages“, vom rasanten Bogenstrich bis zum schmelzenden Tremolo auf der Violine, vom sonoren Balladenton bis zum überblasenen Stakkato auf dem Tenorsaxofon, von perlenden Notenlinien bis zu sperrigen Akkordblöcken auf dem Piano. Fasziniert hörten die auf dem Binger Nahe-Eck dicht gedrängten Zuhörer die harmonisch abwechslungsreichen oder in rasantem Tempo straight geführten Läufe auf dem Kontrabass des 14-Jährigen, der allenfalls im Timing ein paar kleine Mängel erkennen ließ.
Die Leute lieben Joy Fleming. Der gewiss nicht kleine Bürgemeister-Neff-Platz in Bingen ist so gedrängt voll, dass die Mehrheit der Zuschauer die stimmgewaltige Blues-Röhre in ihrem weißen Outfit und von Kunstnebel umwallt nur aus der Ferne bewundern können. Das tun sie denn auch, denn ihre Stimme trägt die Lieder, die sie oftmals wie bei „Fieber“ selbst ins Deutsche übertragen hat, in die entferntesten Winkel. Ihre Späße, in die der musikalische Teil eingelagert ist, sind manchmal derb, immer direkt. So jodelt und krächzt sie, singt sich selbst und imitiert, bleibt eben Joy Fleming, das Original von jenseits der „Neckarbrick“.
Welch in Kontrast zur Frankfurt City Blues Band, die ihre Interpretation des Blues unter anderem mit lässiger Saxophon-Eleganz, B.B.King-inspirierten Gitarrenglissandi, jaulender Bluesharp und der Stimme von Andreas „the“ August groovend und treibend ins Publikum schleudern.
Und nochmals ein Blues, der nur die Struktur mit den Vorgenannten gemeinsam hat. Das Wolfgang Dauner Trio interpretiert John Coltrane mit kraftvollen Akkordschichtungen auf dem Piano – oder „Summertime“ mit je einem Up-Tempo-Part vor und nach dem getragenen Mittelteil, in den Dauner, Mini Schulz am korpuslosen Bass und Obi Jenne am Schlagzeug das Thema variieren.
Der Schlagzeuger Pete York hat ein swingendes Quartett zusammengestellt, in dem „Lady Bass“ Lindy Huppertsberg die Saiten des mächtigen Instruments mit der gleichen harmonischen Raffinesse zupft wie zuvor in der eigenen Gruppe „Witchcraft“ mit der Pianistin Anke Helfrich, der Schlagzeugerin Carola Grey und als Gast die Saxophonistin Carolyn Breuer. Spannungsreiche Pianoläufe, treibende Percussion, verzwickte Basslinien und ein gefühlvolles Saxophon offenbaren weibliche Sensibilität und Frauenpower im zeitgenössischen Mainstream. Aller Kategorisierung widersetzt sich die Sängerin Masha Bijlsma mit ihrem Trio. Sie singt und scattet, setzt ihre ausdrucksstarke und wandlungsfähige Stimme auch instrumental ein, singt samtig zart, sinnlich und kraftvoll treibend. Und Rob van de Broeck schiebt auch mal einen freien Cluster mit dem Unterarm auf dem Piano zwischen die Bebop-Läufe.
Manche Leute haben das Glück gepachtet. Da steht der Sunny Boy des deutschen Jazz hell gewandet vor der schwarzen Röhre des Bühnenzeltes am Binger Rhein-Nahe Eck, ebenso strahlend wie der Ton seiner Trompete. Vor der mächtig groovenden Big Band des Hessischen Rundfunks spielt Till Brönner relaxed mit bestechender Eleganz und berauschender Tongebung „You Took Avantage Of Me“ oder singt „I Love You“. Samten glänzt sein Spiel bei der Lyrik eines Chet Baker ebenso wie beim knackigen Bebop. Die Big Band legt einen schwellenden Soundteppich unter sein zerbrechlich wirkendes Solo. In anderen Stücken lassen die Musiker den satten Klang des Orchesters in Mehrstimmigkeit growlen. Spannenden Bogen vom klassischen Swing bis zur Modernen. Die Musik scheint sogar den Wettergott zu beeindrucken, der die letzten abendlichen Sonnenstrahlen durch die dicken grauen Wolken schickt.
So viel Wohlwollen hätte auch Charlie Mariano verdient, der mit seinem Quintett dem dicht gedrängten Publikum beweist, dass sich jugendliches Feuer und gelassene Reife nicht ausschließen. Die singenden warmen Linien auf dem Saxophon Marianos, die harmonisch komplexen und rhythmisch vielschichtigen Soli des Bassisten Dave King, die stets swingenden, meist gradlinigen, aber zuweilen auch verharrend gegenläufigen Ausflüge Jörg Reiters auf dem Piano, die stechenden, klaren und melodischen Trompetenläufe von Johannes Faber sowie das flexible, präzise Timing des Schlagzeugers Michael Küttner – das alles verband sich zu einem makellosen zeitgenössischen Jazz.
Vor dem Quintett bewies der Peter Weniger im Trio, dass er zu Recht zu den hoch gelobten Saxophonisten der deutschen Szene zählt. Sein ausdrucksvolles Spiel in der Tradition Coltranes mit sonorem Balladenklang, aber auch mit wilden Stakkati in Up-Tempo-Stücken prägte den insgesamt homogenen Sound mit dem ideenreichen Bassisten Decebal Badila und dem Schlagzeuger Heinz Lichius.
Ehe kammermusikalisch, transparent und lichtfüßig ist das Spiel von D.R.A., einem Trio mit dem Hochgeschwindigkeitsklöppler Christopfer Dell am Vibraphon, Christian Ramond am Bass und Felix Astor am Schlagzeug. Die Musik wirkt streng und intellektuell, aber nicht kalt. Das meist lyrische Spiel behält in diesem Trio reichlich Spannung.
Unterhaltsamer ist da die Klezmer-Musik der Klarinettistin Irith Gabriely und des Akkordeonspielers Martin Wagner. Tänze, jiddische Liebeslieder, musikalische Gebete – das gesamte Spektrum dieser mitreißenden Folklore beherrscht dieses Duo mit Entertainer-Qualitäten, die Gabriely auch spielend durch das Publikum führen.
Raffiniert sind die Arrangements die Frank Reichert der Phoenix Foundation verpasst. In diesen Klangkörper des Jugendjazzorchesters von Rheinland-Pfalz passt sich der warme und runde Ton des Flügelhorns von Ack van Rooyen gut ein. Und das gilt nicht nur für die Balladen.
Das Angebot des Binger Festivals ist zu breit gefächert, die Zahl der Bands zu groß, um alle hören zu können. So bleibt dem Besucher die Qual der Wahl. Wer also von Bühne zu Bühne schlendert, der hört Blues und Boogie von B.B. & Blues Shacks, handfest Rhythm & Blues sowie Big-City-Blues von Tommy Schneller und dem Gitarristen Martelle, Dixie und Hot Jazz von den Max Collie Rhythm Aces und Cajun von der holländischen Gruppe Swamp. Spät abends um Zehn swingen dann noch Joe Wulff & The Gentlemen Of Swing in ihren schwarzen Fräcken „On The Sunny Side Of The Street“.
Bingen swingt hat nicht erst durch diese beiden außergewöhnlichen Formationen, sondern mit durchweg künstlerisch bemerkenswerten Gruppen, der Vielfalt des stilistischen Angebotes und besucherfreundlichen Preise vielen anderen Festivals den Rang abgelaufen.