Das neue Harmoniebedürfnis des alten Free Jazzers

Esslingen.  Der 1935 in Heidelberg geborene Multiinstrumentalist Karl Berger ist wirklich ein Woodstock-Musiker – Jimi Hendrix, Joe Cocker & Co. konzertierten 1969 schließlich nur auf Yasgur’s Farm in dem kleinen Flecken Bethel. Auf der Gemarkung des idyllischen Künstlerorts Woodstock hätte ursprünglich das zur Legende gewordene Pop-Festival stattfinden sollen, doch den Stadtvätern wurde damals die Sache zu heiß, und die „Peace & Love“-Organisatoren mussten sich schnell nach einem Ausweichplatz umschauen. In dem nördlich von der Stadt New York gelegenen Woodstock also gründete der promovierte Musikwissenschaftler Karl Berger mit dem innovativen Free-Jazz-Saxofonisten Ornette Coleman Anfang der 70er Jahre das „Creative Music Studio“, welches besonderen Ausbildungswert auf individuelle Kreativität und Kommunikationsfähigkeit legt. Zudem spielten bei dieser Institution, die zwischenzeitlich unter finanziellen Schwierigkeiten litt, stets Tanz und die Performance-Kultur eine wichtige Rolle.

Mittlerweile doziert Dr. Berger auch noch in Frankfurt und wohnt bei seinen Deutschlandaufenthalten in Ulm. So geriet sein Auftritt in Esslingens Dieselstraße zu einem baden-württembergischen Heimspiel, aus der nahen Landeshauptstadt war noch der Schlagwerker Uwe Kühner mit von der Partie. Für den amerikanischen Bassisten John Lindberg, ein vertrauter Künstler in dem alternativen Kulturzentrum, war kurzfristig Vitold Rek eingesprungen. Der Pole wurde 1955 in Rzeszow (Südostpolen) als Witold E. Szczurek geboren und studierte an der Krakauer Musikakademie – unter dem Rektorat von Krzysztof Penderecki. Nun hat der vielfältig engagierte Kontrabassist Hessen zu seiner Wahlheimat auserkoren.

Verschiedene Biografien und Erfahrungen – eine musikalische Einheit Alles differenziert und ausgewogen, auch Uwe Kühner am Drumset. An der Stuttgarter Musikhochschule hat er von seinem Schweizer Lehrmeister Pierre Favre gelernt, dass sich Musikalität nicht in hohen Lautstärkegraden auszudrücken hat. Differenziert ging Kühner vor, drängte sich nicht auf, reagierte sensibel und agierte geschmackvoll in seinen Soli – eben keine aktionistische Schießbuden-Figur.

Karl Berger, mit dem Trompeter Don Cherry in der „Total Music Company“ vormals zur avantgardistische Speerspitze gehörend, ist in seinen Kompositionen und Improvisationen überaus harmoniebedürftig geworden. Balladeskes allenthalben. Doch sein filigran-transparentes Musizieren am Klavier und auf dem Vibrafon, das er (nur) mit zwei Schlägeln traktiert, gleitet nie ins Sentimentale ab. Der vom eigenen Rhythmus stark bewegte Mann produziert eine ehrliche Musik, bei der Motorik und Wohlklang stimmig sind.

Mehr als nur zum Ersatz geriet Vitold Rek. Der virtuose Kontrabassist hatte nicht nur die von Karl Berger entworfenen Themen drauf, er konnte auch eigene Beiträge beisteuern. Besonders reizvoll „Gabissimo“ mit dem aufstrebenden markanten Viertonmotiv. Viel Beifall erhielt in der Dieselstraße sein mit Tenorvokalisen ergänztes Solo „Lo.Bo.Ga.“, das übrigens ebenfalls auf der interessanten Rek-CD „Bassfiddle alla polacca“ zu hören ist. Vitold Rek besinnt sich hier der heimischen Folklore, krächzt und schabt auf seinem Instrument Polyphones und Multiphonics heraus und singt bukolisch-derb – ganz ohne belcanto.

Ein Abend mit vielen leisen und lyrischen Momenten. Das aufmerksame Publikum in der Dieselstraße war angetan.

Am Samstag, 27. Mai, ist die Dieselstraße wieder unterwegs und geht zur Kirche. Im Münster St. Paul bilden der Organist Felix Muntwiler und der Saxofonist Ekkehard Rössle ab 11.15 Uhr ein ungewöhnliches Duo.

(Mai 2000)

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