Bingen Swingt 2006

Es ist heiß an diesem Nachmittag, doch ebenso kochend ist der Sound, den die NDR-Bigband in Bingen produziert. Die Bläsersätze scheinen zu dampfen, die Rhythmusgruppe rockt. Die Harmonien von „Willy The Pimp“ oder „G-Spot-Tornado“ tauchen auf. Frank Zappa wird druckvoll im satten Sound des Orchesters wieder lebendig. Großflächige Klangbilder, energiegeladene Rhythmen und präzise Satzarbeit, die bis in die Free-Jazz-Kollektive weisen, bestimmen die Arrangements des Jazz Orchestra of the Concertgebouw aus Holland. Wie machtvoll und energetisch eine Musik sein kann, wenn zwei solche Klangkörper aufeinander treffen, beweist das Festival „Bingen swingt“ mit einem kurzen aber umso eindrucksvolleren Big-Band-Battle.

Solo-Trompeter blasen im heißen Stakkato- Duell ebenso wie die Posaunisten (auf NDR-Seite Nils Landgren), Schlagzeuger trommeln um die Wette, Saxophonisten liefern sich kochende Zwiegespräche und Gitarristen wetteifern in rasenden Saitenläufen. Später, als das Concertgebouw Ochestra allein auf der Bühne steht, gesellt sich die Sängerin Madeline Bell dazu und erweist mit ausdrucksstarker Stimme in Songs wie „Unchain my hearts“ oder „Let the good times roll“ Ray Charles ihren Tribut.  

Bingen-swingt-Chefin Ute Hangen hat mit Hilfe der Agentur Bernd Otto ein Programm zusammengestellt, das selbst internationalen Festivals zur Ehre gereichen würde. Dies belegen vor dem Big-Band-Battle schon die Auftritte von Jean-Luc Ponty und der einmalige Kontrabass-Summit mit Musikern des European Jazz-Ensembles. Ponty hat noch nichts von der Innovationskraft verloren, die er als Erneuerer der Jazz-Geige bewiesen hat. Seine Art, mit Bogen- und Spieltechnik den revolutionären Saxophonsound auf das Saiteninstrument zu transponieren, fasziniert. In Bingen tritt er mit scharfem Bogenstrich, rockend und ekstatisch vor einer percussiv geprägten Gruppe an.

Zuvor ziehen drei Kontrabassisten das Publikum in ihren Bann. Dieses Mal geht es nicht um einen Wettstreit, sondern um sensibles Zusammenspiel der von der kulturellen Herkunft unterschiedlichen Saitenkünstler Ali Haurand (Deutschland), Aladar Pege (Ungarn) und Jimmi Roger Pedersen (Dänemark). Pege pendelt im Solo mit einer gestrichenen Passage zwischen Balkan-Folklore und Avantgarde, zupft Läufe voller Obertöne und mit rasanten Finger-Wirbeln. Juri Stivin greift zur Flöte und prägt die Stimmung eines Folk-Themas, das mit durchlaufenden ostinaten Rhythmusfiguren lange Spannungsbögen baut, ein offenes Thema des verstorbenen Don Cherry pulsiert unter der wechselnden Melodieführung, die von den jeweils beiden anderen Bassisten gestützt wird und in der Zugabe intoniert die Band „Softly, as in a morning sunrise“ als eruptives Up-Tempo-Stück. 

Ekstase kennzeichnet die Spielweise des französischen Geigers Didier Lockwood ebenso wie Sinnlichkeit. Er rundet das Saiten-Spektakel des Festivals ab. Eben noch in schmelzende Geigenstriche versunken, wechselt Lockwood überraschend in rasante Pizzikati und aufgeraute Tempo-Läufe. „A miracle of you“ ist eine der bezeichnenden Kompositionen, auch wenn im Gegensatz zu Ponty nicht die Grenzen des Mainstream durchbrochen wird.

Erfrischend und unkonventionell, aber mit liebevollem Respekt erweist das Duo Thomas Heberer (Trompete) und Dieter Manderscheid (Bass) Louis „Satchmo“ Armstrong die Ehre. Heitere Ironie steckt in den manchmal melodiösen, dann wieder schrägen und Harmonien auflösenden Interpretationen. Weiter in den freien Jazz hinein reichen die gewohnten, explodierenden Saxophonausbrüche von Peter Brötzmann, der beim Festival in dem E-Bassisten Marino Pliakas einen ebenbürtigen Partner gefunden hat. Vor dem Duo spielt Chris Perschkes „Slide-O-Mania“ ihre raffinierten Arrangements mit flächigen Klangfarben auf fünf Posaunen. Perschke nimmt bei dieser Gelegenheit für seine Arbeit als Bandleader, Komponist und Solist den mit 5000 Euro dotierten Jazzpreis des Jazzclubs Rheinhessen entgegen. 

Bei 40 Gruppen ist es schwierig, eine gerechte Auswahl zu treffen. Zu den hervorzuhebenden Acts zählt gewiss die hr-Big Band, die die beiden Saxophonisten Roman Schwaller (Schweiz) und und Jesper Thilo (Dänemark) präsentiert und sich auf ihre eigenwillige Weise sogar an Bee Gee-Songs wagt. Gleiches gilt für die beiden gleichnamigen Trompeter Martin Auer und Heinz-Dieter Sauerborn mit ausdrucksstarkem Neobop sowie für eine String-Only-Kombination mit dem Pianisten Max Greger jr, dem Bassisten Aladar Pege, dem Banjo-Spieler Bernd Otto und dem Geiger Martin Weiss.

Wie präzise in der Satzarbeit und routiniert in den Soli eine junge Bigband spielen kann, beweist die Phoenix Foundation mit der sicher phrasierenden und gefühlvoll intonierenden Sängerin Elke Diepenbeck.

Die Temperaturen am Abschlusstag passen zu den brasilianischen Sambas der Gruppe um die Sängerin und Percussionistin Angela Frontera. Montezumas Revenge zieht stimmgewaltig, mit einer heiteren Bauchredner-Puppen-Revue sowie Oktaven umfassender Stimmakrobatik die Zuhörer in Bann. Jazz straight ahead wie ihn schon das Colin Dawson Quintet mit dem Saxophonisten Scott Hamilton gespielt hat, beschließt auch das Drei-Tage-Festival: Der Jazz-Express des früheren Count-Basie-Drummers Butch Miles macht seinem Namen Ehre.

Die drei Bläser treffen in „Things ain´t what they used to be“ zielsicher die Ellington-Stimmung der Komposition und strafen den Titel Lügen: Hier ist die Musik so, wie sie sich präsentiert. Mit der Jay-Jay-Johnson-Komposition „This could be the start of something big“ eröffneten die Posaunisten Bert Boeren (Niederlande) und Niklas Carlsson (Schweden) das Festival. Ihre musikalische Prophezeiung erfüllt sich voll und ganz.

Martin Auer

Madeline Bell

 Elke Diepenbeck

Butch Miles

Moelgard / Hamilton 

Montezumas Revenge

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