Eine weise Rothaut überrascht mit HipHop:
Der 95jährige Altsaxophonist jazzt und plaudert gerne
Von New York nach Weinsberg: eine wahre Jazzlegende weilt derzeit im Schwabenländle: Benny Waters, 95. Bestaunen kann man den Altsaxophonisten in Europa noch bis Ende Juli bei mehreren Konzerten. Allemal interessant und unvergesslich bleibt erst recht eine persönliche Begegnung mit einem weisen Menschen, einem authentischen Zeugen unseres Jazz-Jahrhunderts…
Noch zu seinen Lebzeiten kann Benny Waters einige Unwahrheiten, die über ihn kursieren, zurechtrücken. Bereits als Dreijähriger, also im Jahre 1905, habe er im Bundesstaat Maryland angefangen, Klavier und Orgel zu lernen – und nicht erst als Sechsjährige wie er in einer Publikation falsch zitiert wird. Der hochbetagte Waters lobt sich: „I was a prodigy – ich war ein Wunderkind!“. Im schulreifen Alter habe er dann zur Klarinette gegriffen, später seien die diversen Saxophone hinzugekommen. Sehr verärgert reagiert Waters, wenn behauptet wird, er hätte nur „a few months“ bei Fletcher Henderson gespielt. In dessen Big Band habe er den Platz des stilbildendenden Tenoristen Coleman Hawkins eingenommen und sei ganze drei Jahre geblieben.
Außerdem stellt Waters klar, daß er keine „afrikanische Wurzeln“ besitze: er ist amerikanischer Ureinwohner und stolz auf seine indianische Abstammung. „Ich hatte die dunkelste Haut, meine Geschwister waren heller!“, berichtet Benny Waters. Sein Vater, der das gesegnete Alter von 98 Jahren erreichte, mußte sich als Rothaut vom Stamme der Seneca wegen seines ungewöhnlichen Teints den Beinamen „Brownskin“ gefallen lassen.
Angefangen hatte Benny Waters nicht mit irgendeiner Frühform von „Jazz“, sondern mit Kirchenmusik – und europäischer Klassik. Brav spielte er in einem 25jährigen Orchester von Noten und studierte später Theorie und vor allem Funktionsharmonik am New England Conservatory.
Waters selbst verdingte sich auch als Dozent und genoß den späteren Duke-Ellington-Baritonsaxophonisten Harry Carney als gelehrigen Schüler. Ihn selbst, so betont Benny Waters wiederholt, haben besonders Johnny Hodges und Benny Carter beeinflußt. Mit dem inzwischen 89jährigen Carter saß er einst im Orchester von Charlie Johnson, und die Aufnahmen aus den 20er Jahren sind heutzutage auf etlichen CDs zu finden. Lediglich Studioaufnahmen tätigte Waters 1927 mit dem legendären Joe „King“ Oliver, bekanntlich musikalischer Ziehvater von Louis Armstrong. Mit Satchmo zusammen hat Waters – entgegen anderer Behauptungen – doch nicht musiziert. Benny Waters, der wie Django Reinhardt und Gary Burton am 23. Januar Geburtstag feiert, konnte die ganze Jazzgeschichte erleben und bleibt nunmehr stilistisch keineswegs dem Oldtime-Jazz verhaftet. Sein Credo: „Ohne Rhythmus gibt es keinen Jazz. Wenn man nicht mehr mitwippen kann, ist das kein Jazz mehr!“. Selbst bezeichnet er sich als Mainstream-Musiker. Und nun ist er sogar mit modischem HipHop zu hören – auf einer Maxi-CD gibt er als Vokalist und Texter der Aufforderung „Let’s Talk About Jazz“ nach und erzählt aus seinem Leben, bevor er bei einem postmodernistischen „Oh When The Saints Go Marchin‘ In“ mitmischt. Waters wurde bereits als der „modernste Jazzinstrumentalist über 90“ bezeichnet, nun darf er getrost als der älteste Rapper bezeichnet werden – it’s cool, man! Aufgenommen wurde die Silberscheibe „Benny & Jan“ Ende 1996 in Stuttgart. Mitmusiker und Produzent dieses kuriosen Tonträgers ist der Kontrabassist Jan Jankeje. Mit seiner Frau Gerti betreibt er in Weinsberg (bei Heilbronn) die Labels „Jazzpoint Records“ sowie „G&J Records“.
Jetzt weilt Waters wieder unter der historischen Burg Weibertreu. Ein renoviertes Altstadthaus in der Entengasse dient als Ausgangspunkt für ausgedehnte Konzertreisen durch Europa. Bis Ende Juli stehen Auftritte nicht nur in Holland, Österreich und der Schweiz auf dem Plan. Freilich heißt dann die Devise nicht HipHop, sondern „Swinging Again“ – so wie die bei „Jazzpoint Records“ erschienene Quartett-CD. Der in Bratislava geborene Jan Jankeje ist dabei ständiger Partner des agilen Altsaxophonisten, während die Pianisten Werner Lener und Olaf Polziehn sowie die Schlagzeuger Gregor Beck und Alex Bally sich bei den diesjährigen Tour-Terminen abwechseln. Am 1. August möchte Benny Waters zunächst nach Paris fliegen, wo er seit 1949 vier Jahrzehnte lang sein Domizil aufgeschlagen hatte. Dann geht es wieder zurück nach New York.
Geistig fit ist Benny Waters allemal, er plaudert nicht bloß über die Historie, ihn interessiert auch Aktuelles. Selbst der Free Jazz ist bei ihm ein Thema. Hochachtung hegt er vor den instrumentalen Leistungen von Ornette Coleman, Eric Dolphy und Anthony Braxton. Da vergißt man fast, daß Benny Waters seit fünf Jahren blind und nicht nur deshalb recht wackelig auf den Beinen ist.
Bei unserem Treff in Weinsberg sitzt er am Nachmittag noch mit Schlafanzug und Morgenmantel da. Fotografieren könne ich ihn so nicht, macht er mir klar, ich möge doch die Fotos verwenden, die ich vor über einem Jahrzehnt aufnahm. Damals bereicherte er als Stargast die Band des Stuttgarter Posaunisten Alexander Katz.
Nicht zu stoppen ist der Redefluß von Benny Waters – keine bloßen Monologe, der Blinde achtet stets darauf, daß die Gesprächspartner seinen Ausführungen folgen, und stellt gerne auch Gegenfragen. Fachsimpeleien über das Hervorzaubern von Mehrklängen auf Saxophon und Klarinette und über das Improvisieren in harmonisch schwierigen Balladen folgen.
Zum Schluß eine Einladung einer Jazzlegende: ich möge doch bald wieder kommen und meine Klarinette mitbringen, dann könnten wir eine Session abziehen…