Zwei Seelen wohnen in seiner Brust. Die eine schwelgt in lyrischen, impressionistischen Klangfarben, kommt auf sanften Pfoten und schmeichelt dem Ohr, so dass die Verfremdungen und verschliffenen Tontrauben unter dem Wohlklang fast überhört werden. Doch die elektronischen Schleifen und Loops in „Might have been“ erinnern wieder daran, dass aufregende dynamische Kompositionen hinter Mike Sterns pastellfarbenen Linien stecken. Doch dann kommt mit „Chatter“, einer hochenergetischen Komposition die andere Seele des 54-jährigen Gitarristen zum Durchbruch. Das grelle Up-Tempo-Stück ist mit seinen rauen Glissandi-Läufen , den überblasenen Stakkati des Saxophonisten Bob Franceschini und den knochentrockenen Einwürfen des Bassisten Anthony Jackson ist das Kontrastprogramm zum vorhergehenden „Might have been“. Als sich dann Dennis Chambers auf seinen Trommeln und Becken mit rasendem und vielschichtigem Rhythmengeflecht herausgefordert fühlt, entwickelt sich das komplexe Kollektiv zu einem Soundgewitter. Dieser Wechsel zwischen leisen, lyrischen sowie schreiend-lauten, energiegeladenen Power-Stücken zieht sich durch den gesamten, langen Abend des Quartetts um Mike Stern beim ausverkauften Konzert der Rüsselsheimer Jazzfabrik in der nüchtern-kahlen früheren Opel-Werkshalle A1.
Am Anfang des Konzertes stand mit „Tumble“ von Sterns neuer CD ein Hochgeschwindigkeitsspiel mit rasenden Gitarrenläufen und der passenden Unterstützung von Saxophon, Bass und Schlagzeug. Das ebenfalls neue „KT“ besticht mit zunächst langgezogenen Melodielinien auf der Gitarre und ostinaten Akkordfiguren auf dem Bass sowie dem singenden Tenorsaxophon, das dann aber mit steigender Expressivität eine wachsende Intensität und Dichte des Zusammenspiels einleitet bis das Quartetts nach einem kraftvollen Zwischenspiel plötzlich sanft das Thema wieder aufgreift. Es entwickelt sich ein filigranes Zwiegesprächen zwischen den schwebenden Skalen auf der Gitarre und einem Fingerpicking-Spiel auf dem sechssaitigen Elektrobass, den Jackson wie eine Gitarre, aber eine Oktave tiefer gestimmt hat. In solch leisen Passagen nimmt Francheschini geschmeidig klingende Soul-Elemente in sein Saxophonspiel auf, unterstreicht Chambers mit filigranem Besenspiel auf den Becken, dass er mehr als nur Powerplay kann.
In der Zugabe treiben sich Stern und Franceschini zu unisono Geschwindigkeitsrekorden, die Jackson mit zuckenden Kopfbewegungen und harten Akkordeinwürfen auf dem Bass ergänzt, während Chambers mit rasenden Trommelwirbeln den Sound auffüllt. Stern zettelt ein scheinbar endloses Powerplay an, zwingt die Mitmusiker zu immer neuen Variationen des Themas, schlägt schließlich die Hände über dem Kopf zusammen und zeigt beim bekannten breiten Lachen seine Zähne. Faszinierend wie sich Mike Stern in Rage spielen kann.