Geige unterm Kinn, Fußball im Herzen


Alle Photos auf dieser Seite: Hans Kumpf 

Krakau/Warschau.-Der wohl bekannteste und allerheftigste Fußball-Fan Polens ist ein Engländer. Es handelt sich um den Star-Geiger Nigel Kennedy, dem vor drei Jahrzehnten mit seiner Version von Antonio Vivaldis „Die vier Jahreszeiten“ ein Super-Bestseller auf dem internationalen Schallplattenmarkt gelang. Inzwischen lebt der Musiker in Krakau, der Heimat seiner Frau Agnieszka.

In Polen fühlt sich der Brite wohl, aber sein Fußball-Liebe ist immer noch der Insel zugewandt, wie der Saitenkünstler einmal auf Anfrage betonte. Vom Vereinigten Königreich konnte sich nur die englische Nationalmannschaft für die EM qualifizieren. Und für diese wird Nigel Kennedy ganz mächtig die Daumen drücken – und nicht für das Team von Trainer Smuda. Schön wäre es für Nigel Kennedy gewesen, seine Landsleute aus England in Krakau stürmen und siegen zu sehen, aber die Kulturhauptstadt Europas (im Jahre 2000) wurde bekanntlich nicht zu einem der acht Austragungsorte der EURO2012 auserkoren.

Der Ende 1956 im Seebad Brighton geborene Violinist hatte in der seriösen Klassik-Szene wegen seines unbotmäßigen Benehmens schnell den Ruf eines „Enfant terrible“ weg. Dem Alkohol ist der Superstarkeineswegs abgeneigt, und er verspätet sich schon oft bei seinen Auftritten. So sorgte er in der Vergangenheit nicht nur bei Professor Wolfgang Gönnenwein anlässlich eines freiluftigen Konzerts der Ludwigsburger Schlossfestspiele für Stress und Aufregung. 

Längst ist Nigel Kennedy aus der Vivaldi-Schublade herausgekrochen und emanzipiert sich mit Klezmer, Jazz und Rock. Ob dies auch musikalische Sonderklasse bedeutet, sei dahingestellt. Auf der Bühne stellt er – wie Mitte März im nordpolnischen Gdynia- seine Bandkollegen zuweilen mit „fucking“ vor, für den etwas mollig gewordenen Kennedy ein Wort ehrerbietendsterHochachtung. Seine ehedem als aufmüpfig empfundenePunk-Frisur hegt und pflegt er gelgeschmiert immer noch, obwohl die Haare des nun 56-Jährigen grau und schütter erscheinen.

Unkonventionell ist die Bühnenkleidung des Violinisten: Ein Trikot von „Aston Villa“. Mit diesem sportiven Outfit posiert er auch für die Beihefte seiner CDs. Dem Traditionsclub aus Birmingham hält Nigel Kennedy ewige Treue, seit ihn sein Vater erstmals mit ins Stadion nahm. „Dies prägt einen fürs Leben!“, bekennt der Sohnemann heute. Fußball sei für ihn eine ebenso große Leidenschaft wie die Musik, fügt der Meistergeiger hinzu. Und Nigel Kennedy denkt an die Zukunft: „Meine Urne soll am Spielfeldrand begraben werden. Fußball bedeutet Bewegung, Kampf und Trubel. Ich war schon immer ein unruhiger Geist. Das soll sich auch nach meinem Tod nicht ändern.“

Bei der EURO2012 könnten die Mannschaften von Polen (Gruppe A) und England (Gruppe D) erstmals im Halbfinale aufeinander treffen. Bis dahin wird in der Krakau der Familienfrieden bei Agnieszka und Nigel Kennedy gewahrt bleiben… Aber demSaitenvirtuosen beliebt es vielleicht, ein derartiges Match mal wieder zum Gesamtkunstwerk zu erweitern. Vor zwei Jahren kreierte er in London einen Live-Sound-Track zum projizierten Film eines historischen Qualifikationsspiels für die WM 1974. Damals standen Polen und England einander gegenüber. Am 17. Oktober 1973 gewannen im Wembley-Stadion die Gäste sensationell mit 2:0 und hatten somit das Ticket für bzw. nach Deutschland in der Tasche, wo sie schlussendlich Dritte wurden.

Egal, wie es bei der EMin der Ukraine und in Polen kommt – Nigel Kennedy bleibt am Ball. Sogar bei seinen Konzerten. Da kickt er nämlich manchmal das Leder vom Podium herunter in die Niederungen des meist „fassungslosen“ Publikums. Als der Solist einmal zusammen mit den Berliner Philharmonikern in Leipzig auftrat, wurde ein derartiger Scharfschuss doch noch bravourös gehalten – von einem in der Bach-Stadt tätigen Profi-Torwart, der sich zufälliger Weise ganz genau platziert hatte. Diese Anekdote erzählt Nigel Kennedy verschmitzt, wie ein Lausbub vom Bolzplatz.

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