Broecking Verlag, Berlin, 216 Seiten, 49,90 Euro (ISBN 978-3-938763-32-2).
Ist der Jazz Ausdruck des Protestes, wie Fans in Europa besonders mit dem Aufkommen des Free Jazz es so gerne interpretieren? Ist die „schwarze Musik“ Ausdruck einer „Black Community“, wie selbst amerikanische Kritiker oftmals behaupten? Der Jazz-Liebhaber, Soziologe und Journalist Christian Broecking ist dieser Frage in zahlreichen Gesprächen mit Musikern nachgegangen. In einem Buch, das aus einer Dissertation über „Studien zur Gesellschaftlichen Relevanz des afroamerikanischen Jazz zwischen 1992 und 2007“ an der TU Berlin hervorgegangen ist, hat er die Antworten wissenschaftlich ausgewertet und aufbereitet. Die Ergebnisse bergen manche Überraschungen.
Ausgangsposition war die Auseinandersetzung um die politische Relevanz, den gesellschaftlichen Nutzen und die Definition des Jazz in der Kontroverse und den Neotraditionalismus, den der Musiker Wynton Marsalis samt dessen Familie in den 90er Jahren predigte. Broecking kommt bei seinen Interviews und deren Auswertung zum Schluss, dass die durch Marsalis repräsentierte gesellschaftliche und kulturelle Utopie eines neotraditionalistischen Aufbruchs während des Untersuchungszeitraumes nicht realisiert werden konnte.
Auf mehr als 200 Seiten stellt der Autor nach einem einleitenden Rückblick zu den gegensätzlichen Einschätzungen Theodor W. Adornos und Joachim Ernst Berendts über den Freiheitsgedanken des Jazz sowie Überlegungen zur Oppositionsrolle der Musik und der Community, 16 ausgewählte Interviewpartner vor, deren Aussagen er in seine Untersuchung einfließen lässt. Das Aufgebot reicht von Free-Jazz-Pionier Ornette Coleman bis Wynton Marsalis, dem erfolgreichen Repräsentanten der Neotradition und Organisator des in Musikerkreisen nicht unumstrittenen Lincoln-Centers. Die Interviews selbst sind nicht abgedruckt, so dass der Leser sich auf die Interpretation verlassen muss, die Broecking zieht, wobei er kurze, eingestreute Zitate zur Verfügung stellt.
Dessen ungeachtet enthalten die Zusammenfassungen der jeweiligen Untersuchungskategorien interessante, viele erwartete, aber auch teilweise überraschende Aussagen. Die Interviewpartner bestätigen beispielsweise die Marktherrschaft der Weißen in der Musikindustrie sowie andere Rassismuserfahrungen. Der Jazz wird zwar als progressive Kraft erlebt, von den Gesprächspartnern jedoch (mehrheitlich?) nicht als politische Plattform begriffen. Interessant ist es vor allem, aus der wissenschaftlichen Distanz heraus die kontroverse Diskussion zwischen den Neotraditionalisten und den Avantgardisten nachzuvollziehen.
Es reicht zwar, die jeweiligen Zusammenfassungen der Fragekomplexe zu lesen, dennoch sind die in den Kapiteln eingefügten Zitate im Detail erhellender und verdeutlichen das heterogene Meinungsgefüge beim vorgegebenen Thema.