Mit zwei Big Bands auf dem Pariser Platz begann die 14. Ausgabe von JazzOpen. Jazz also zu Anfang des Stuttgarter Sommerfestivals, das als Publikumsmagneten traditionsgemäß ja primär Pop-Größen aufbietet. Immerhin gingen im Vorverkauf 1300 Tickets für den historisierenden Swing-Abend weg, und das trübe Wetter hielt vielleicht so manchen Fan von einem Spontanbesuch ab. „Singing in the Rain“ hieß es immer wieder für den Vokalisten Tom Gaebel, der seine kleine Big Band total dominierte.
Tom Gaebel, wo 32 Jahren in Gelsenkirchen geboren, mag bei einer Pressekonferenz unscheinbar wirken, aber auf der Bühne profiliert er sich gestylt als großer Zampano mit affektierter Selbstironie. Ihm ist eine angenehme Baritonstimme zu eigen, und er kopiert gerne Frank Sinatra – freilich nicht so intonationstrüb wie einst „The Voice“ himself und ohne Zigarette sowie Whiskeyglas auf der Bühne. Gaebel versteht sich als einschmeichelnder Entertainer und lässt gerne den guten alten Swing aufleben – mit „Fly me to the Moon“ und „Caravan“ beispielsweise.
Aber die karikierende Imitation von Karel Gotts „Biene Maja“ war jetzt doch zuviel des Kitsches. Fehlanzeige bei Tom Gaebel, wenn es bei dem eigentlichen Multiinstrumentalisten um kreative Vokalimprovisationen gehen sollte. Auch die Mitglieder seiner Formation, darunter sein jüngerer Bruder Denis am Tenorsaxofon, bekamen nur kurze Soli zugestanden. Alles zwar perfekt inszeniert, aber keine Freiräume für individuelle Spontaneitäten.
Absolute Perfektion im Zusammenspiel und heiße Soli offerierte dagegen das New Yorker „Jazz at the Lincoln Center Orchestra“ von Wynton Marsalis. Bewundernswert sind bekanntermaßen die instrumentaltechnischen Fertigkeiten des nun 45-jährigen Trompeters aus New Orleans, weltweit umstritten ist er wegen seines nicht-innovativen Beitrags zur Jazzgeschichte.
Zunächst ließ er seine Mannen bestens den galanten Swing von Duke Ellington imitieren. Da growlte es mächtig wie vormals bei Cootie Williams, und Altsaxofonist Johnny Hodges mit seinen süßlichen Schleiftönen schien eine Wiederauferstehung zu feiern. Aber dann nahm sich Wynton Marsalis auch Kompositionen von den zwei Free-Jazz-Exponenten John Coltrane und Ornette Coleman vor. Freilich klang dies nunmehr nicht furchtbar avantgardistisch, die Tonalität wurde keineswegs revolutionär gesprengt, und das Metrum als rhythmische Basis blieb erhalten. Eine ohrenfreundliche Neutönerei eben.
Bemerkenswert in der Band der versierte Altsaxofonist Ted Nash, der sich auch als raffinierter Arrangeur präsentieren konnte – mal in der abstrakten Moderne wie beim „Third Stream“, mal weniger originell in einer spanischen Flamenco-Nummer im phrygischen Tongeschlecht.
Während am dritten Festivaltag auf dem Pariser Platz Gitarrist Jean-Paul Maunicks mit seiner populären Funk- und Soul-Band „Ingognito“ ordentlich einheizte, ging es gleichzeitig beim Jazzclub BIX im Gustav-Siegle-Haus ganz cool zu. Vokalist und Sänger Peter Fessler sowie Trompeter Joo Kraus kennt man als Heißsporne, jetzt aber präsentierten sie sich im Duo mit der Premiere von „The Lied Project“.
Angst hatten die beiden Künstler, dass Kaffeemaschine, Gläserklappern und Geschwätz ihre Darbietung hätte stören können. Doch es herrschte in dem qualmfreien Raum eine ganz konzentrierte Atmosphäre. Seitdem sich Albert Mangelsdorff „Es sungen drei Engel“ vornahm, bearbeiteten moderne deutsche Jazzer immer wieder altes Liedgut. Schlicht und völlig unsentimental gerieten dann auch beispielsweise „Wohlauf in Gottes schöne Welt“ und „Kommt ein Vogel geflogen“. Für reizvoll arrangierte Parts mit neuen Melodielinien und Harmonien sowie für kreative Improvisation blieb viel Raum. Stilistisch blieb sich Fessler treu – er liebt die Subtilität brasilianischer Musikkultur: Samba und dann Boss Nova. Kein akrobatischer Schnicknack auf der akustischen Gitarre, und der Gesang introvertiert mit feinen Obertonschattierungen.
Sensibel ebenfalls Joo Kraus, der neben der Trompete noch das weichere Flügelhorn einsetzte und auch dieses meist mit einem Dämpfer versah. Elektronisches Beiwerk und „poetry raps“ kamen von dem Ulmer fein dosiert. Richtig aufgedreht hat Kraus nur bei „Die Gedanken sind frei“, als er mit trickreicher Computerunterstützung polyphon mit und gegen sich selbst blies.
Das Erich-Kästner-Poem „Die Wälder schweigen“ transformierte Komponist Fessler in einen Sechsachteltakt, wobei er dem südamerikanischen Metier verhaftet blieb. Entsprechend verfuhr er mit vier lyrischen Texten von Miriam Frances, die Anfang der 40er Jahre in Schlesien geboren wurde, nun sehr zurückgezogen in Hamburg lebt und schon für Udo Jürgens, Nana Mouskouri und Jürgen Marcus arbeitete.
Der Chansons-Bezug war ganz klar bei der Zugabe „Les Feuilles Mortes“ alias „Autumn Leaves“ von dem französischen Gespann Prévert/Kosma zu spüren. Freilich: Brasilianische Grazie war auch hier zugegen.
„Back to the Roots“ wollen seit Jahrzehnten selbstbewusste schwarze Künstler Amerikas gelangen. Jetzt hat die 1950 in Memphis, Tennessee, geborene Dee Dee Bridgewater ihre Herkunft recherchiert und ist musikalisch bei der „roten Erde“ in Mali gelandet. Auch die zweite Sängerin des fünften JazzOpen-Abends auf dem Pariser Platz ist in Westafrika verwurzelt. Angélique Kidjo stammt aus dem kleinen an Nigeria angrenzenden Benin. Sie eröffnete das Doppelkonzert inmitten der Bankpaläste nahe dem Hauptbahnhof.
Die blondierte Vokalistin agierte als Shouterin auf gleich bleibend hohem dynamischen Level. Angélique Kidjo, inzwischen in New York lebend, vollführte einen einfachen Afro-Pop mit zugesetzten Elementen von Funk, Rock und Reggae. Rhythmisch war bei ihr alles relativ simpel gestrickt, gesangsmäßig mit dem obligatorische „call and response“-System versehen. Der aus Brasilien kommende Gitarrist Rubens de la Corte brachte noch die Samba-Note mit ein. Insgesamt ein abgekartetes, improvisationsloses Spiel samt primitiver Publikumsanmache. Erst am Schluss entwickelte sich – bei „Tumba“ – ein fulminantes Perkussionsfeuerwerk. Ansonsten die üblichen politischen Botschaften mit der Forderung nach einer besseren Welt.
Spannungsgeladen und elastisch dagegen durchweg die Musik von Dee Dee Bridgewater, wahrhaft eine Power-Frau im Jazz. Vor zwei Jahren erlebte man sie beim Osterjazz im Theaterhaus mit einem Kurt-Weill-Programm, jetzt also ist sie ihren Herkunftsspuren nach Afrika gefolgt. Und Dee Dee Bridgewater praktizierte – im Gegensatz zu Angélique Kidjo eben – mit ihrer Band eine komplexe Polyrhythmik mit vielen Natursounds und vehementen Improvisationen. So hörte man von Lansine Kouyate virtuos ein Balafon, sozusagen ein afrikanisches Xylofon, dessen Klang ihr regulärer Pianist Edsel Gomez raffiniert zu imitierentrachtete. Auch das Begleitinstrument der westafrikanischen Liederbarden, die Kalebassenharfe Kora war ständig im Einsatz, und „Geschichtenerzähler“ Kabine Kouyate lieferte sich mit der Afroamerikanerin ein aufregendes Griot-Blues-Duett.
Flötist Ali Wague beteiligte sich in Mali bereits an der originalen CD- und DVD-Produktion von „Red Earth“ und ließ auch in Stuttgart mit luftig-lyrischen Tönen aufhorchen. Erfreulich, dass auch diese Performance vom Fernsehen des Südwestrundfunks aufgezeichnet wurde.
Eigentlich hätte es zum Schluss der 14. JazzOpen auf dem Pariser Platz ein vergnüglicher „Family Jazz Sunday“ werden können. Doch als auf der Bühne neben dem Flügel ein kühlender Ventilator und zwei schützende Sonnenschirme installiert worden waren, entschlossen sich die Veranstalter kurz vor 17 Uhr doch noch für einen schnellen Abbruch des Open-Air-Festivals. Die wenigen verbliebenen Besucher hatten sich bei einer Temperatur von 35 Grad Celsius ohnehin fernab in schattige Plätzchen verzogen, und für Paul Kuhn, inzwischen 79, wäre es eine unnötige Tortour gewesen.
Vor zwei Jahren lag der „Mann am Klavier“ sterbenskrank in einem Schweizer Hospital, wo er mehrere Bypässe und eine Herzklappe erhielt.Einen Kreislaufkollaps wollte man nicht riskieren. Jetzt soll der Altswinger und bekannte Schlagersänger wenigstens im nächsten Jahr bei der 15. Ausgabe von JazzOpen auftreten, damit er dann Hot Jazz bei etwas kühleren Abendtemperaturen zelebrieren kann. Immerhin blieb Schlagzeuger Willy Ketzer auf der Bühne, um interessierten Kindern seine rhythmischen Künste ganz aus der Nähe bestaunen zu lassen.
Um 11 Uhr, nachdem sich die Kids schon „tierisch“ schminken lassen haben können, wurden den Jazzfans von morgen bereits die Möglichkeit zuteil, etwas über diese Musik zu lernen und selbst aktiv zu werden. Längst bewährt hat sich die Gesprächskonzertform „Jazz für Kinder“ mit dem Pianisten Peter Schindler, dem professoralen Bassisten Mini Schulz, dem Saxofonisten Peter Lehel und dem Drummer Mainhard „Obi“ Jenne. Da fing es ganz leicht an mit einem schnaubenden Mitmach-Rhythmus – und alsbald setzten sich die „Schwäbsche Eisebahne“ und Ellingtons „A-Train“ in Bewegung. Zwischendurch gab es lustige Instrumentenkunde, und bei der „One Note Samba“ und dem „C-Jam Blues“ durften die Kleinen mitsingen. Mindestens das Lied „Drei Chinesen mit dem Kontrabass“ (das nahtlos in Herbie Hancocks „Water Melon Man“ überging) mit den diversen Vokal-Variationen war allen zuvor bekannt. Vielleicht ging zuweilen eine Erklärung („lateinamerikanischer Rhythmus“) über die etwa dreihundert Kindsköpfe hinweg, was jedoch nicht die Qualität des musikpädagogischen Bemühens minderte. Und ganz mutige Mädchen und Jungens durften anschließend bei dem „Instrumenten-Parcours“ in Alphorn, Trompete sowie Posaune hineinpusten und dabei Töne herausquetschen oder das Drumset traktieren.
Bis zum Alter von 25 Jahren kann im Jugendjazzorchester Baden-Württemberg gespielt werden. Die von Professor Bernd Konrad geleitete Big Band überraschte so manchen Zuhörer mit ihrer professionellen Performance. Mit dem Pianisten Tobias Becker hat man einen begnadeten Arrangeur in den eigenen Reihen, während sich beispielsweise der Trompeter Dominik Wagner und die Altsaxofonist Katharina Brien als herausragende Instrumentalsolisten profilierten. Nicht weniger perfekt gestalteten die beiden Sängerinnen Carolin Bechtle und Gudrun Wagner ihre Parts. Stilistisch blieb das Elite-Ensemble bei diesem Konzert dem Swing und modernen Jazz verhaftet.
Keinesfalls Jazz bot anschließend „Ben Jammin“ von der Mannheimer Popakademie. Bei Jazz-Puristen löste das Quintett entsetzten Ärger aus – viel Gedröhne mit Techno-Firlefanz und Rock-Gestampfe. Ob die wiederholten Textzeilen „Seid Ihr bereit?“ und „Lust auf Liebe“ auf übertriebene kreative Intelligenz hindeuten, sei dahingestellt. Eigentlich konnte sich da kaum jemand aufregen, weil zu dieser nachmittäglichen Stunde bei der brütenden Hitze im Stuttgarter Talkessel ohnehin das Service-Personal zahlenmäßig die Eintrittsgeld berappenden Besucher übertroffen hat.
Das Volk war jedoch zuhauf geströmt, als sich populäre Rock-Größen ein Stelldichein gaben. Als Refugium für den Jazz diente allabendlich der erwähnte Club „BIX“, in dem überraschend noch Wynton Marsalis jammte und Saxophonist Joshua Redman gastierte. Insgesamt 26 Acts mit 240 Künstlern – dieser Bericht konnte da eben nur Einzelereignisse beleuchten.