1978 führte Hans Kumpf mit dem „Little Giant“ ein Interview
Am 25. Juli 2008 verstarb in seiner neuen Wahlheimat Frankreich der amerikanische Tenorsaxophonist Johnny Griffin, noch im April hatte er seinen 80-jährigen Geburtstag gefeiert. Griffin, körperlich klein, aber eine musikalisch beachtliche Größe und deshalb auch „The Little Giant“ genannt, spielte in Bands zusammen mit Lionel Hampton, Dizzy Gillespie, John Coltrane und vielen weiteren wichtigen Musikern des Jazz. 1974 besuchte ich bei ihm anlässlich eines Festivals im belgischen Middelheim einen Jazzkurs, wo wir – er am Klavier und ich an der Klarinette – viel Blues und Duke Ellington spielten. 1978 führte ich mit dem stets vitalen Griffin ein ausführliches Gespräch, als er in Stuttgart konzertierte.
Was bedeutet der Blues in Ihrem Leben und in Ihrer Musik?
Der Blues ist die Botschaft und die Geschichte meines Lebens – so wie auch der Jazz. Für mich ist es das gleiche, weil auch im Jazz das Feeling beherrschend ist und er auf dem Blues basiert. Beides, Jazz und Blues, ist für mich, wie das Leben auf mich einwirkt, meine Reaktionen auf Aktionen, meine Existenz und meine Erfahrungen. Der Blues ist der Ausdruck davon.
Und das Blues-Spielen?
Ja, das Blues-Spielen ist mein Ausdrucksmittel. Der Blues an sich bedeutet für mich Ausdruck des Lebens der Leute. Für mich ist er eine Art zu leben, er ist meine Art zu leben. Denn er ist die Art und Weise, wie man sich freut. Er ist die Art und Weise, wie man die täglichen Sorgen und Leiden anpackt. Er ist die Art und Weise, wie man Dinge erlebt. Es geht hierbei nicht um die Frage, ob man einsam oder traurig ist. Nein, du kannst auch den Blues haben, wenn du happy bist. Tatsächlich hat der Begriff „Blues“ eine sehr weit gefassten Bedeutung.
Glauben Sie, dass Weiße den Blues so fühlen können wie die Schwarzen?
Ich weiß, dass Weiße den Blues fühlen können. Aber es gibt etwas, von dem ich weiß, dass es für Weiße sehr schwierig zu fühlen ist, was den Blues durchzieht: Das ist der Rhythmus, der rhythmische Aspekt in der Musik, in der Jazzmusik und im Blues. Denn der Rhythmus ist in seiner Struktur afrikanisch; das afrikanische 6/8 Feeling, das völlig anders ist als die europäische klassische Art von Musik, die sehr gleichmäßig ist mit den Zählzeiten eins – zwei – drei – vier. Es gibt da natürlich auch andere Rhythmen, aber was ich sagen will, ist, dass sie im Grunde genommen sehr starr ist. Es ist ein Unterschied im Feeling, ob ein klassischer Musiker eine Phrase spielt oder ob ein Jazzmusiker die gleiche Phrase spielt. Für Weiße war es vor einigen Jahren schwierig, dieses Feeling zu haben; aber ich glaube nicht, dass es jetzt noch so schwierig ist wie früher, denn diese Musik ist sehr auf dem Vormarsch. Man denke an die Popmusik und an die Background-Musik bei Film und Werbespots, wo die Jazzgrundlage überall da ist, wenigstens rhythmisch. Aber dieser Rhythmus ist für Europäer so unheimlich anders – es ist wie Jazztanzen, das ganz auf den Rhythmus bezogen ist, was die Bewegung und so weiter anbetrifft. Ich möchte sagen, dass es vor 20 Jahren wirklich seltsam gewesen wäre, weiße Musiker in dieser Weise spielen zu hören, außer wenn es Amerikaner waren und sie mit afroamerikanischen Leuten zusammen waren. So hatten sie die Möglichkeit, sich mit dieser Lebensart auseinanderzusetzen. Das ist die Art, die Straße lang zu gehen, die Art, seine Slang-Ausdrücke zu wählen – es ist etwas von Afrika. Im Jazz ist sogar im 4er-Takt ein 3-er-Feeling. Es ist nicht eine starre metronomische, unmenschliche Disziplin, wie das in der klassischen Musik der Fall ist. Es ist eine Art von Gleiten, das von der Triole herkommt, wenn man sich mit den Triolen relaxt; ja, es sind Triolen.
Sie sagten, die Rhythmik sei das entscheidende Moment. Sind es nicht auch die sozialen Verhältnisse?
Ja, bestimmt. Aber das ist so, wie alles andere auch. Wenn du die Traurigkeit nie gefühlt hast – wie kannst du dann Trauer ausdrücken? Wenn du nie Freude gefühlt hast – wie kannst du sie ausdrücken? Es ist dein Lebensstil. Wenn du in deinem Leben mal ausgeflippt bist, etwas riskiert hast, vieles gesehen hast und viele Erfahrungen gewonnen hast, Hochs und Tiefs, oder was auch immer. Und wenn du die Fähigkeit hast, diese Dinge auszudrücken, kommst du ganz sicher besser heraus als einer, der nie Schwierigkeiten erlebt hat, keine Probleme hatte, vielleicht nur Langeweile, vielleicht reich war oder so. Dann weißt du nicht, was du mit dir anfangen sollst. Aber was kannst du ausdrücken? – Langeweile? Aber wenn du ein Leben voller Kampf und Not geführt hast und die technische Fähigkeit hast, das auszudrücken – das ist für mich Jazz. Es ist der persönliche Ausdruck, spontan, jetzt, genau jetzt.
Johnny Griffin, Hans Kumpf 1974