Wenn ich Brötzmann höre, dann sehe ich ihn immer irgendwo anders. Nicht da, wo er bei Enjoy Jazz spielte – im akustisch trockenen Keller der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg, beim Solokonzert – sondern alleine in einer Steppe, in der er mit inbrünstigem Klarinettenröhren seine Herde merkwürdiger Tiere zusammen ruft.
Oder an einer Ecke in Manhattan, vielleicht unter einer Brücke, unter der er seine Art von Blues mit voller Kraft gegen den übrigen Lärm der Welt anspielt. Als Schamane, der die Leiden der Welt nicht nur mit zerissenen Klängen beschreit sondern manchmal in kurzen Passagen sogar zu heilen versucht.
Er hat sein Arsenal an Blasinstrumenten dabei und spielt sich durch, von der Klarinette über das Altsaxophon zurück zur Metallklarinette und schließlich zum Tenorsaxophon. Schiffsirenenartige Töne, die den Raum bis in die letzte Ecke füllen und mit schierer Kraft den Raum fast sprengen. Da fließt die Luft nicht sanft durchs Instrument, sie wird gepresst, mit Hochdruck. Brötzmann „spielt nicht“ sondern macht Musik mit vollstem Ernst. Es gibt kaum Lücken, kaum wahrgenommene Atempausen und umso überraschender wirkt es, wenn er doch einmal Kontraste setzt und sich ganz zarte Sequenzen ergeben.
Im wesentlichen bleibt: „brötzen“. Wäre Jazz populärer, dann müsste das ein Verb werden. Spielen mit voller Kraft, die 71 Lebensjahre des Herrn Brötzmann nur in seiner Erfahrung hörbar: die subtile Beherrschung des Instruments, die sich hinter vordergründig brachialem Sound versteckt und doch gelegentlich aufschimmert in den lyrischen Einsprengseln und in den kurzen, ausklingenden Schlusspassagen, in denen auch ein Brötzmann ganz leise wird. Sein extremes Powerplay konfrontiert auch die Zuhörer, mit einer akustischen Wucht, die gelegentlich über die Aufnahmefähigkeit des Gehörs hinausschießt: Hören als akustische Grenzerfahrung bei der die Gehörknöchelchen aneinander zu schlagen scheinen und selbst Geräusche produzieren.
Das einzige Stück des Abends mit einem leisen Beginn ist eine Hommage an den am Vortag verstorbenen »der es zwar nicht mehr hören kann…« John Tchicai. Aber selbst die sich anbahnende Totenklage geht bald über in heftigere Töne, in lose strukturierte Klang- und Geräuschkaskaden; und es ist wohl nicht überinterpretiert den Protest, die Anklage gegen den Tod und seine unverschämte Absurdität heraus zu hören. Wie überhaupt Peter Brötzmanns Musik essentiell aus Protest besteht, dem tapferen Anspielen gegen eingefahrene Strukturen, seit Jahrzehnten. Protest gegen eingefahrene Jazz-Idiome aber auch Jazz gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse. So wundert es nicht, wenn Brötzmann im Gespräch mit Enjoy Jazz Festivalchef Rainer Kern im Anschluss an das Konzert den weiten Bogen vom amerikanischen civil rights movement der 1960er in den Staaten bis in die eurokrisengeschüttelte Gegenwart spannt. Die Zeiten ändern sich, die miesen Verhältnisse tragen neue schicke Mäntel, einer bleibt und spielt dagegen an. „Haltung“ als Teil des Gesamtkunstwerks Peter Brötzmann.
Ob Peter Brötzmann tatsächlich der wichtigste lebende deutsche Jazzmusiker ist, wie Rainer Kern im Nachgespräch behauptet, sei dahin gestellt. Das ist eine sympathische Zuschreibung und spricht für den Musikgeschmack des Festivalchefs. Und wenn man die Einschätzung auf die Brötzmannschule einschränkt ist die Aussage ja richtig. Denn es gibt nur einen wie Brötzman – einen Solitär der deutschen Jazzlandschaft.