„Atomic“ ist die andere Seite des nordischen Jazz. Hier gibt es keine Spurenelemente von den Klischees der Kühle und Ruhe. Die fünf Musiker explodieren vom ersten bis zum letzten Akkord förmlich in hochenergetischem Spiel. Es ist, als ob das Quintett aus dem äußersten Norden Schwedens die klimatisch bedingte Kälte mit heiß brodelndem, orgiastischem und ungebundenem Spiel kompensieren wollte.
Im Gegensatz zu dem von der Plattenschmiede ECM geprägten Nordic-Jazz ihrer skandinavischen Kollegen bezieht Atomic seine Spielweise aus dem amerikanischen und europäischen Free-Jazz der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts. 1999 hatte die Free Jazz Formation fünf Musiker der schwedischen Gruppen „Element“, „Firehouse“ sowie der Noren-Band unter einem Dach vereint. Die Ideen eines Ornette Coleman, Archie Shepps, Peter Brötzmann und Ken Vandermark haben bis zum Trondheimer Konservatorium einen langen Weg hinter sich, doch die Musik klingt frisch, unverbraucht und mitreißend lebendig.
Die typische Mehrstimmigkeit und Unisono-Klangfarben von Saxofonen, Klarinette und Trompete, die teils gläsern klirrenden Notenketten, teils rollenden Akkordschichtungen des Pianos sowie der pulsierende Rhythmus von Schlagzeug und Bass prägen den Sound der Post-Free-Supergroup auch beim Konzert der Rüsselsheimer Jazzfabrik im Kulturzentrum „Rind“. „Fissures“ „Panama“, „Morphemes“, „Uppflug“ oder „Green Mill Tinter“ – die Kompositionen des Saxofonisten Fredrik Ljungkvist und des Pianisten Havard Wiik explodieren geradezu mit der Kraft einer Atombombe. Trompeter Magnus Broo steigt immer wieder in die höchsten Lagen, bläst überspitzte High-Notes wie schrille Schreie oder trifft sich sanft überblasen mit dem cantablen Lauf des Baritonsaxofons in einer „Toccata“. Vor und nach ihren expressiven und extrovertierten Soli auf dem Tenorsaxofon und der Trompete finden sich Ljungkvist und Broo mit erfreulicher Beständigkeit zum gemeinsamen Klangfarbenspiel, zeichnen mit wildem Pinselstrich Soundflächen auf einer audiophilen Leinwand, die unter den frei trommelnden Sticks des Schlagzeugers Paal Nilssen-Love vibriert. Ingebrigt Haker Flaten unterlegt die getrageneren Teile mit kühnem Bogenstrich und zupft in den drängenden Up-Tempo-Passagen rasende Läufe. In „Fissures“ fasziniert Flaten beim Solo auf dem Kontrabass mit harmonisch reizvollen, komplexen und zugleich differenzierenden Linien.
Ob rasende Single-Notes oder rollende Bass-Läufe auf dem Piano, ekstatische Stakkati auf der Trompete und sonor geblasene, wilde Explosionen auf dem Tenorsaxophon sowie parlierende oder flirrende und zwitschernde Duos auf Klarinette und Trompete – die Interaktionen der fünf Musiker in den kochenden Tutti zeugen von phänomenalem Einvernehmen und paradoxerweise von strenger Kontrolle. Zutreffend nennt Wiik eine seiner Kompositionen „Here comes everybody“.
Das Spiel zieht viel Spannung aus den oftmals abrupten und überraschenden Wechseln zwischen langsam schwingenden Klangflächen und rasenden, treibenden Läufen. Bei allem Freiheitsdrang haben die Musiker offensichtlich nicht die Tradition aus den Augen verloren. Einmal an diesem Abend zitiert Broo für einige Takte die New-Orleans-Trompete eines Louis Armstrong, ein anderes Mal swingt Atomic unter der Führung von Nilssen-Love im Vier-Viertel-Metrum.
Diese energiegeladene urbane Musik voller Spielwitz und -freude steckt auch die begeisterten Zuhörer im gut besetzten „Rind“ an. Erst nach einem zusätzlichen musikalischen Parforce-Ritt darf „Atomic“ die Bühne verlassen.