Mensch und Mechanik

In der noblen Donauhalle durfte in diesem Jahr wieder einmal die „SWF-Jazz Session“ aufspielen, wobei man den Begriff „Jazz“ nicht so eng sehen darf. „Ich bin weder Jazzmusiker noch klassischer Musiker“, erklärt auch die 29jährige Schweizerin Sylvie Courvoisier, und nennt György Ligeti und Thelonious Monk gleichermaßen als Vorbilder. Und da ist es nur folgerichtig, daß sie „Leute, die viel reden, ohne etwas zu sagen“ haßt und Virtuosität um ihrer selbst ablehnt.

Ihrer „Ocre de Barbarie“ benannten Performance stellte sie das 1962 entstandene musikalische Zermoniell „Poème symphonique“ des aus Ungarn stammenden Komponisten voran: 100 Metronome laufen in unterschiedlichen Tempi, bis jeweils der Federaufzug abgelaufen ist. Bei musikhistorisch Unbedarften löste dieses maschinenhafte Spiel mit Metren und Rhythmen auch 35 Jahre später noch nervöse Unruhe aus. Von Ligetis Cembalo-Stück „Continuum“ dürfte die komponierende Pianistin Sylvie Courvoisier bei einem Solo in der Manier von „minimal music“ inspiriert worden sein. Pierre Chariel an der lochkartengesteuerten Drehorgel (auf französisch „Orgue de Barbarie“) ließ seinen Pfeifen allmählich die Puste ausgehen, so wie es Ligeti schon Anfang der sechziger Jahren bei „Volumina“ mit einer Kirchenorgel praktizierte und abwärts glissandierendes Gewimmer provozierte. Nebenbei sei bemerkt, daß sich György Ligeti im Gespräch mit dem Autor dieser Zeilen erneut ausdrücklich als „Liebhaber des Jazz, aber nicht von allem“ bezeichnete und vor Jahren schon in seiner Eigenschaft als Hamburger Hochschulmusikprofessor mit seinen Studenten ausführlich Wechselwirkungen und Parallelen zwischen Postserieller Musik und Free Jazz thematisierte.

Geiger Mark Feldman ließ in Donaueschingen improvisatorisch doch beträchtliche Virtuosität aufkommen, als er die Saiten simultan strich und zupfte. Während Feldman zuweilen an Klezmer erinnerte, erinnerte Saxophonist Daniel Bourquin mit seinen verquetschten und verdrückten Tönen an Hespos und Lachenmann – und im emotionalen Ausdruck paradoxerweise an Ligetis elektronischer Komposition „Artikulation“. Nicht weniger nuanciert gestaltete der Perkussionist Mark Nauseef seinen Part. Allenthalben entwarf Sylvie Courvoisier ein postmodernistisches Konglomerat, welches von Stille, sphärischen Klängen, phrygischen Schwelgereien bis zu zum spieluhrenartigen Dreivierteltakt reichte.

Opernhaft makaber dazu die Musikautomaten von Francois Junod: nachgebildete menschliche Körperteile wie aus Frankensteins OP, fernbedient und bewegt mit elektrischer Maschinenkraft. Gezielte Lichteffekte und dosierte Live-Elektronik (Walter Quintus) vervollständigten das Gesamtkunstwerk, dessen akustisch wahrnehmbare Variante „S 2 Kultur“ am 27.11.1997 um 19.05 Uhr ausstrahlen wird.

Ohne Affront an überlieferte Hörgewohnheiten gestaltete der Louis Sclavis sein „L’Affrontement des Prétendants“. Auch hier vor allem konzeptionelle Strenge und kaum interaktiv-improvisatorische Freiheiten. Der französische Klarinettist und Saxophonist ist bekannt als subtiler Musiker – und als Vertreter der „imaginären Folklore“. Zwischen wohltemperierter Tonalität, scharfkantigen Rhythmen, abstrakten Tonfolgen, komplexen Harmonien, Punktualismen und Komik pendelte so sein sechssätziges Werk. Seine Partner mußten kundige Notisten sein, so der Moskauer Flügel- und Waldhornist Arkady Shilkloper, der ja am 3. Oktober im ZDF als musikalischer Begleiter der talkenden Polit-Ikone Gorbatschow auftreten durfte. Der holländische Cellist Ernst Reijseger durfte eine szenische Schau abreißen, als er – äußerst musikalisch und gewitzt – eine neue Saite aufziehen durfte, pizzicato und mit arco unterstützt durch den Bassisten Bruno Chevillon. Und Schlagzeuger Pierre Favre ist ohnehin ein Garant für sensible Klänge von Metall, Trommelfellen und Holz. Sendung der Sclavis-Komposition: 11. Dezember 1997 um 19.05 Uhr im gemeinsamen Kulturprogramm von SDR und SWF.

Ganz ohne amerikanische Stars bewies diese von Achim Hebgen organisierte Veranstaltung, daß „Jazz made in Europe“ nicht nur Anziehungskraft für das Publikum zu haben vermag, sondern auch auf neuen und kreativen Pfaden wandeln kann. Es muß ja nicht immer nach dem 12-Takte-Schema oder der 32taktigen Song-Form ablaufen.

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