Das Herbstprogramm der Esslinger Reihe „Jazz in der Dieselstraße“ startete mit einem rhythmusgruppenlosen Doppel-Pack. Auf Einfachrohrblattinstrumente, auf Klarinetten und Saxophone also, wurde das instrumentale Arsenal konzentriert. Keine Limits freilich gab es bei den künstlerischen Ausdrucksweisen. Sowohl das Schorn-Puntin-Duo als auch die Kombination von Sylvain Kassap und Francois Corneloup sind bekannt für eine musikalische Weltoffenheit.
Als 1995 bei „New Classic Colours“ die CD „Elephants‘ Love Affair“ erschien, überraschte der Silberling nicht nur mit audiophilen Kostbarkeiten. Da konnte nämlich dank eines Bonus-Tracks der multimediale Computerbesitzer auf dem Bildschirm die musikalische Konzeption des eigenwilligen Duos durchlesen. Man erfuhr biographische Daten des 1967 in Aalen geborenen Steffen Schorn und des 1965 im schweizerischen Zug auf die Welt gekommenen Claudio Puntin. Schließlich wurden zwei kurze Amateur-Videos von einem Kölner Auftritt sicht- und hörbar gemacht.
In Esslingen spielten Puntin und Schorn neben neuen Kompositionen und freien Titeln vor allem Stücke dieser spannungsreichen CD. Die Noten im Kopf und nicht auf dem Ständer, ohne Mikrophonverstärkung, mit großer Konzentration und mit viel Spaß vollführten sie verschmitzt eine musikalische Weltreise: „Em Häimetli“ bringt Puntin, eigentlich Sproß einer italienischen Familie, mit der Klarinette appenzellerische Folklore ins Spiel, wobei Schorn auf dem Baritonsaxophon das Alphorn markiert. Trips in die Türkei und den Balkan, nach Thailand, Griechenland, Argentinien (zu dem dort geborenen Klezmer-Klarinettisten Giora Feidman) und nach Österreich sind Option. Da wird viel erzählt, auch bei „Elephants‘ Love Affair“, wo Steffen Schorn und Claudio Puntin als balzende Dickhäuter auf den Baßklarinettenmundstücken schnalzen. Nicht weniger lustvoll und intelligent fassen die beiden ihre Programmkomposition „Der Zwerg“ analytisch in Worte: „Leichtfüßig hüpft er von Ton zu Ton, ungerade Takte graziös umtänzelnd, stößt gegen eine Terz, stolpert über ein Staccato, rappelt sich wieder auf, purzelt über Notenhälse…“.
Als herbeigeklatschte Zugabe schließlich „Die Tochter des Tyrannen“, wobei orientalische Schalmeientöne auf einer sogenannten „Blockette“ imitiert werden: oben und unten eine Klarinette, inmitten das braune Griffteil einer Blockflöte. Ein paar Register tiefer bewegte sich gerne Steffen Schorn, nämlich auf der nur aus Metall efertigten Kontrabaßklarinette und auf dem bärigen Baßsaxophon.
Weniger virtuos, dafür mit viel Sinn für feine dynamische Schattierungen und für Klangsensibilitäten agierte nach der Pause das französische Duo. Francois Corneloup bediente – als einziger Nicht-Klarinettist des Abends – das Sopran- und vor allem das Baritonsaxophon, während Sylvain Kassap neben dem Sopransax, die Baßklarinette, die normale B-Klarinette und die wegen ihrer Piepsigkeit in Stadtkapellen verschriene Es-Klarinette blies. Vielfach ließen sie barockale Kontrapunktik ertönen, mal auswendig interpretiert, mal aufmerksam improvisiert. Gelegentliche eruptive Ausbrüche fanden schnell wieder in das geordnete Konzept zurück. Wie könnte es anders sein: die in Frankreich so beliebte „imaginäre Folklore“ lieferte rhythmische und tongeschlechtlche Muster, die sofort ins Ohr gehen, ohne dümmlich-simpel zu sein. Dann aber modernistische Klangströme: mikrotonal bei einem absoluten Solo Corneloups, zirkularatmend und vielstimmig („harmonics“) bei einem Feature von Kassap.
Eine zünftige Abschlußsession drängte sich gerade auf, wobei sich instrumental und übernational neue Fronten auftaten. Da ergingen sich Claudio Puntin und Sylvain Kassap zunächst in kammermusikalischen Klarinettenkantilien, die von den „Saxophon-Rüpeln“ Steffen Schorn und Francois Corneloup attackiert wurden. Nach der Konfrontation gelangte man improvisatorisch dann doch noch zur harmonischen Einheit und zog im Gänsemarsch durch den Zuschauerraum, nicht ohne flugs das Hauptthema von Prokofieffs „Peter und der Wolf“ zu zitieren…