Alle Photos (hier Esperanza Spalding) auf dieser Seite: Hans Kumpf
Wahrhaftig ein Marathon-Festival mit über vierzig einzelnen Konzerten bei vier verschiedenen Spielorten an insgesamt zehn Tagen. Unmöglich, von allen Ereignissen angemessen zu berichten. Die „Jazzopen Stuttgart“ begannen wieder innerstädtisch auf dem Schlossplatz, wechselten dann mit den Hauptevents zur Open-Air-Arena des Mercedes-Benz-Museums nach Bad Cannstatt und boten stets ein Nischenprogramm im Jazzclub BIX. Dort präsentierten sich auch die Kids berühmter Eltern: Die Vokalistin Lizzy Loeb, Tochter des Stan-Getz-Gitarristen Chuck Loeb und der spanischen Sängerin Carmen Cuesta, sowie der Bassist Kyle Eastwood, Sohn des Filmregisseurs und Schauspielers Clint Eastwood.
Robert Cray
Ein konstanter Faktor und sicherer Publikumsmagnet bei dem Stuttgarter Sommerfestival bleibt die jazzlose Sängerin Katie Melua. Zu ihr strömten 5000 zahlende Zuhörer, Hunderte sparsamer Schwaben lauschten der Britin georgischer Abstammung vor den Absperrungen auf den (Liege-)Wiesen. Auch Gitarrist George Benson lockte da die Massen an, aber nicht so sehr. Mit modernem Blues hatten vor ihm seine – ebenfalls noch mit dem Kehlkopf tätigen – Instrumentalkollegen Robert Cray und Keb’Mo‘ dem Publikum eingeheizt.
Ähnlich wie bei der mexikanischen Malerin Frida Kahlo (1907-1954) sollte auch bei der US-amerikanischen Sängerin Melody Gardot ein schwerer unverschuldeter Verkehrsunfall nicht nur ein harter persönlicher Schicksalsschlag sein, sondern sich maßgeblich auf das künstlerische Tun auswirken. Die Anfang 1988 in New Jersey geborene Melody Joy Gardot leidet immer noch unter den Folgen des Crashs, den sie 19-jährig als Radfahrerin mit einem ihr die Vorfahrt nehmenden Jeep hatte. Äußerliche Zeichen sind nach den Kopf- und Wirbelverletzungen die obligatorische Sonnenbrille und ein Krückstock. Zudem lässt sich das ewige Kranksein in der PR-Arbeit geschickt vermarkten. Dass Melody Gardot bei extra inszenierten Video-Drehs und Foto-Shootings nicht mit Sex-Reizen geizt, hat sie aber nicht nötig – ihre Musik ist trotzdem gut, vor allem live.
Melody Gardot
So schreckten die gepfefferten Eintrittspreise das Publikum im Hof des Neuen Schlosses nicht. Man war schließlich gekommen, um Hits wie „Mira“, „Les Etoiles“ oder „Baby, I’m A Fool“ unmittelbar erleben zu können. Freilich, die akkreditierten Fotografen wurden auf deutliche Distanz zur Bühne vergattert. Ein derartiges Show-Gehabe gab es auf Stuttgarter Festivals auch schon bei Juliette Gréco und Carlos Santana.
Schon gar nicht geknipst werden durfte beim ersten Stück, bei dem die zierliche Künstlerin inbrünstig ganz solo eine Art „fieldholler“ intonierte. Afroamerikanisches Timbre von Melody Gardot, in deren Adern auch polnisches Blut fließt. Vor allem als versierte Vokalistin präsentierte sich die mittlerweile 27-Jährige, instrumentale Einlagen am Steinway-Flügel und an der E-Gitarre blieben eher die Ausnahme. Den Vorwurf, seichte Barmusik zu produzieren, konnte man ihr jetzt nicht machen. Da entwickelt Melody Gardot eine burschikose Kratzbürstigkeit in der ausdrucksstarken Stimme, auch wenn ihr das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ eines der „schönsten und erotischsten Vibratos der Gegenwart“ attestierte. Mal textfreier Scat-Gesang, mal ein Gurren wie bei Eartha Kitt. Furios zelebrierte die weitgereiste Amerikanerin mit ihrer achtköpfigen Band eine wirkliche Weltmusik – argentinischer Tango, Gospel, Arabisches, Brasilianisches, Klezmer, Flamenco und sogar klassischer Operngesang inklusive.
Obgleich die Konzert-Konzeption sehr ausgeklügelt war (Lichteffekte und Trockeneisnebel steuerten die visuellen Zutaten bei), blieb für improvisatorische Momente noch genügend Freiraum. Da raunzte Irvin Hall auf dem Tenorsax geradezu freejazzig heraus, und Charnet Muffet trickste virtuos am gezupften und gestrichenen Kontrabass. Subtil-kammermusikalisch kamen die Einwürfe von Gitarre und Cello.
Jill Scott
Zuvor hatte sich beim Festival in Stuttgarts guter Open-Air-Stube Jill Scott als vehemente Power-Frau gezeigt. Vor 40 Jahren in Philadelphia geboren, praktiziert die arrivierte Sängerin ordentlich Soul und erinnert so an die Wahl-Schweizerin Tina Turner. Beträchtlich sind ihr Stimmumfang und ihre Oberweite. Auch Jill Scott heizte auf dem Schlossplatz mit einem abwechslungsreichen Programm ein – samt Background-Vokalisten und stürmischen Bläsern. Besonders afro-amerikanische Landsleute gerieten da aus dem Häuschen.
Kleiner dimensioniert kamen die Veranstaltungen am Mercedes-Benz-Museum daher. Esperanza Spalding, wie Melody Gardot 27 Jahre alt, spulte nicht etwa einzelne Songs herunter, sondern betonte bei allen Pop-Avancen, wie wichtig ihr auf Bassgitarre und Kontrabass und mit der Stimme das interaktive Improvisieren ist. „Prickelnd“ nennt die „Süddeutsche Zeitung“ ihre CD „Radio Music Society“,und furios jazzte sie vor und mit ihrer kleinen Big Band drauflos.
Larry Coryell
Ein besonderes Erlebnis war, was Larry Coryell auf seiner Korpusgitarre absolut solo aus Maurice Ravels Instrumentationsstudie „Bolero“ machte und dabei noch heftig mit dem Falmenco flirtete. Eine entsprechende Intensität legte auch Joey DeFranceso auf seiner Hammond-B3-Orgel hin, während Trio-Drummer Jimmy Cobb relativ cool blieb. Larry Carlton ist zweifellos auch ein begnadeter und wirklich vielseitiger Saitenvirtuose, strömte aber in seiner Performance weniger Charisma aus.
Über alle Jazz-Zweifel erhaben ist natürlich Dianne Reeves, die nun zum dritten Mal unter dem guten Stern im modernen Amphitheater grandios ihre Stimmbänder strapazierte.
Wie im Literaturbetrieb so herrscht auch in der Jazzszene mittlerweile eine massive Inflation von Preisverleihungen. Selbst auf nationaler Ebene sind die vielen Auszeichnungen kaum mehr zu registrieren. Da mag man sich fragen, wem eine derartige Zeremonie mehr dient – dem Künstler oder dem Geldgeber, der sich nicht ganz uneigennützig große Medien-Öffentlichkeit und gesellschaftliche Anerkennung erhofft.
Monty Alexander
2001 erkor die Sparda-Bank Baden-Württemberg für die „German Jazz Trophy“ Erwin Lehn (1919-2010) aus. Der legendäre Big-Band-Chef vom Süddeutschen Rundfunk wurde zu Recht für sein swingendes Lebenswerk geehrt. In den Folgejahren erhielten die beiden Pianisten Wolfgang Dauner und Paul Kuhn diese Würdigung für „A Life for Jazz“.
Danach erschien es oft so, dass nach Stuttgart zum Festakt und zum Konzert in eigener Sache ausländische Musiker geladen wurden, die gerade ohnehin in Deutschland auf Tournee waren. Trompeter Kenny Wheeler (2006), Pianist Dick Hyman (2006), Komponistin/Pianistin Carla Bley (2009) und Bassist Dave Holland (2011) beispielsweise.
Nachdem die Sparda-Bank nun zum Hauptsponsor von Jazzopen wurde, setzt sie zum feierlichen Schlusspunkt des Festivals im Konzertsaal der Musikhochschule die Verleihung der einst von Bildhauer Otto Herbert Hajek geschaffenen „German Jazz Trophy“-Skulptur an. Für 2012 suchten sich die Finanzleute, vereint mit der „Kulturgesellschaft Musik + Wort e.V. Stuttgart“ und der in Regensburg erscheinenden „Jazzzeitung“, den jamaikanischen Pianisten Monty Alexander als Preisträger aus.
Montgomery Bernard Alexander, geboren am 7. Juli 1944 in Kingston, griff während der letzten vier Jahrzehnte in der Stuttgarter Region vielfach in die 88 Tasten – aber nie bei einem großen Festival der Landeshauptstadt. Unkomplizierter Mainstream, schön swingend, war schon immer Monty Alexanders Vorliebe. Pralle Akkordik und fingerfertige Parallel-Läufe unterstreichen nach wie vor seine meisterliche Beherrschung des Instruments. Anfangs musste er sich noch den Vorwurf gefallen lassen, er sei lediglich ein Plagiator von Oscar Peterson, wenig später artete seine Schmusemusik in Beliebigkeit aus. Authentizität bewies Monty Alexander allerdings, wenn er an das musikalische Erbe seiner karibischen Heimat anknüpfte.
Nachdem der 68-Jährige in Stuttgart etliche Swing-Klassiker samt einigen Zitaten intoniert hatte, interpretierte er auch seine ganz eigene Version von Bob Marleys Reggae-Hit „NoWoman, No Cry“. Allerdings: Seine Begleiter Hassan Shakur (Kontrabass) und Frits Landesbergen (Schlagzeug) agierten jetzt nicht so perfekt wie vormals seine früheren Trio-Partner John Clayton und Ed Thigpen.
Andreas Kolb, Chefredakteur der „Jazzzeitung“ unterstrich in seiner Laudatio, dass die Plattenkarriere von Monty Alexander vor vier Jahrzehnten beim legendären Label Saba/MPS in Villingen begonnen habe. Bank-Boss Helmut Renner, selbst Hobby-Pianist, freute sich, dass die zwölfte German Jazz Trophy wieder an einen Klavier-Virtuosen ging. Markus Brock vom SWR oblag traditionsgemäß die muntere Moderation der von „Musik+Wort“-Geschäftsführer Götz Bahmann organisierten Veranstaltung.