Unkonventionelles beim „JazzLänderSpiel Deutschland – Schweiz“
Stuttgart – Es müssen ja nicht zwangsläufig Stars aus den Vereinigten Staaten von Amerika sein. Gute Musik vermögen auch europäische Jazzer zu liefern, wobei auch die avantgardistischen Klänge aus der alten Welt durchaus ihr Publikum finden. Nachdem das letztjährige JazzFest in Berlin einen Schwerpunkt auf den alpenländischen Jazz legte, pfiff jetzt Theaterhaus-Chef Werner Schretzmeier das mehr oder weniger swingende „JazzLänderSpiel Deutschland – Schweiz“ an. Keine Reminiszenz an die weltmeisterliche Euphorie des Jahres 2006, sondern die konzertante Reaktion auf etliche gelungene CDs helvetischer Provenienz, wobei im Festivalprogramm auch junge deutsche Gruppen berücksichtigt werden. Die österlichen Jazztage sind nunmehr bei Nummer 22 angelangt, nicht immer verlief der Kartenverlauf zufrieden stellend. Schon am ersten der fünf Jazztage zeigte es sich, dass die Jazzrezipienten aus ganz Baden-Württemberg den Veranstaltern des Theaterhauses trauen und sich mittlerweile gerne auf ein kulturelles Wagnis einlassen.
Gleich die erste Formation, das erfolgreich reanimierte Trio „Depart“, überzeugte mit ausgetüftelter Konzeption, Variabilität und Interaktionsfreudigkeit. Zu Beginn Hymnisch-Modales in der Tradition John Coltranes, dann Bluesiges dem verqueren US-Bassisten Charles Mingus zu Ehren, später abstrakter Bebop und kantiger Rock Jazz. Besonders reizvoll, wie Heiri Känzig in Anlehnung an den amerikanischen Neutöner John Cage zwei Saiten mit Wäscheklammern präparierte und die mitteleuropäische Wohltemperiertheit erneut verließ, als er seinen Kontrabass sozusagen in eine arabische Oud umfunktionierte. Sein Landsmann Jojo Mayer legte ohrenfällig Zeugnis ab vom Weltklasseniveau eidgenössischer Trommler – denen liegt Polyrhythmik schon im Blut. Harry Sokal, seit Jahrzehnten bekannt durch das „Vienna Art Orchestra“, setzte bei Sopran- und Tenorsaxofon subtil elektronisch generierte Verdopplungseffekte ein.
Kleidermäßig sieht er eigentlich so aus wie sein eigener Roadie, äußerlichen Firlefanz lehnt er ab – die reine Musik zählt: Bruno Amstad. Das Stimmwunder aus der Schweiz trat mit der Gruppe „New Bag“ des in Dublin geborenen und seit seinem zehnten Lebensjahr in Switzerland lebenden Gitarristen Christy Doran auf. Besonders spezialisiert hat sich Amstad auf Obertongesang – inspiriert von tibetischen Mönchen? Wie Bobby McFerrinbetreibt er „body percussion“, wenn er sich mit der Hand auf den Brustkorb schlägt. Das durch den Pianisten Hans-Peter Pfammatter, den Korpusbassgitarristen Wolfgang Zwiauer und den Drummer Fabian Kuratli vervollständigte Quintett bewegte sich bei punktualistischen Aktionen ausgiebig in den Geräuschhaftigkeiten avancierter Zeitgenössischer Musik, verschmähte aber auch Afrikanisches nicht.
Eher Populistisches etwas zeitversetzt im kleineren Saal „T2“. Da präsentierte zunächst der komponierende Pianist Andreas Schnermann oftmals südamerikanisch anmutende Songs nach Gedichten des Engländers W. H. Auden. Selbst Lyrik über den Holocaust kam als ohrengefällige Harmlosigkeit arrangiert herüber. Eine nette Stimme von Inga Lühning – mehr nicht, schon gar nichts Improvisatorisch-Kreatives.
Interessanter gerieten da die Adaptionen einiger Pop-Hits von Sting bis Nena, bewerkstelligt durch drei Jazzpreisträger des Landes Baden-Württemberg und den agilen Ulmer Trompeter Joo Kraus. Die „Rhythmusgruppe“ mit dem Pianisten Ralf Schmid, dem Bassisten Veit Hübner und dem Schlagzeuger Torsten Krill war intelligent genug, das Projekt nicht ins Triviale abgleiten zu lassen. Ob der oft an Miles Davis erinnernde Kraus sich unbedingt noch als (rappender) Vokalist betätigen muss, sei dahingestellt.
Der Jazz ist eine im guten Sinne globale Angelegenheit, er sprengt nationale Grenzen. So verhält es sich auch in der Schweiz, wo man sich von Bergen und Kantonen nicht einengen lässt. Zum Normalfall gehört eigentlich, dass bei den Eidgenossen ebenfalls die Bands international besetzt sind. Exemplarisch demonstrierten dies bei den Theaterhaus Jazztagen am Ostersonntag zwei ältere Herren, die vom Piano aus ihre Ensembles leiteten: Joe Haider, 71, und George Gruntz, der am 24. Juni 2007 in Basel groß seinen 75. Geburtstag feiern wird.
Ein Heimspiel genoss in Stuttgart der Wahlschweizer Joe Haider, 1936 in Darmstadt geboren, in Baden-Württembergs Landeshauptstadt aufgewachsen und über München schließlich als Direktor bei der Jazzschule Bern gelandet. Die Jazztradtionen hat er durchgemacht, und ganz organisch und harmonisch integriert er nun das von dem improvisationskundigen Geiger Joerg Widmoser angeführte Modern String Quartet in seine Arrangements. Von Zwanghaftigkeit keine Spur, unbekümmert werden vermeintliche Genregrenzen missachtet und vom Blues bis zu Sound-Collagen, die bei der Ouvertüre zu „Ein Sonntag in der Schweiz“ mit instrumentalen Mitteln eine „musique concrete“ mit Kuhglocken und Muhen herbeizaubern, die künstlerischen Bandbreiten ausgekostet. Zuverlässig am Schlagzeug ein „echter Emmentaler“, Daniel Aebi, am Bass ein Hellene, Gieorgos Antoniou, und an Saxofonen und Altklarinette wieder ein Schweizer, Thomi Geiger.
Von handwerklichen Qualitäten und vielen Beziehungen zur Neuen Musik gekennzeichnet ist ebenfalls die aktuelle Concert Jazz Band des nimmermüden George Gruntz. Zur Stammbesetzung gehören da beispielsweise das afroamerikanische Universalgenie Howard Johnson an Bassklarinette, Baritonsaxofon und Tuba sowie der hervorragende Balladen-Trompeter Marvin Stamm. Explosiv heuer besonders die beiden Posaunisten Gary Valente und Earl McIntyre. Beeindruckend, wie schnell und kompetent der Franzose Francois Laizeau den regulären Drummer Adam Nussbaum, der wegen einer familiären Angelegenheit kurzfristig ausfiel, ersetzen konnte. Die Gruntz-Kompositionen und Bearbeitungen, die sich vornehmlich den Querdenkern Thelonious Monk und Charles Mingus widmeten, gerieten schließlich vertrackt und verzwackt genug. Gelegentlich stimmten bei dem für kurze Zeit wieder zusammengerufenen Solistenorchester die Einsätze nicht so exakt, was aber durch vehemente Improvisationsleistungen ausgeglichen wurde. Vor Stuttgart hatte es einen Konzerttermin in Paris gegeben, danach stand Winterthur auf dem Tourplan.
Beim österlichen „JazzLänderSpiel Deutschland – Schweiz“ wurden an fünf Tagen auch augenzwinkernd Klischees bedient. Naturtöniges aus Alphörnern quoll da bei den „Kerberbrothers Alpenfusion“ als auch bei der amerikanisierten Schweizerin Erika Stucky mit ihrer kabarettistischen Show hervor. Auf das schweizerische Jungtalent am Drumset. Lucas Niggi, wies das Festival hin, Gitarrist Christy Duran konnte sich nach seiner Gruppierung „New Bag“ noch mit seiner Erfolgsband „OM“ profilieren. „No Square“, „OUA“, BraffOesterRohrer“, der Trompeter Eric Truffaz und „Nik Bärtsch’s Ronin“ lieferten zudem einen hörbaren Einblick in das emsige Schaffen der Schweizer Jazzszene, die in Stuttgart natürlich nicht gänzlich dokumentiert werden konnte. Zum Finale kooperierte der feinsinnige Perkussionist Pierre Favre, der an der örtlichen Musikhochschule lehrt, mit Musikern aus aller Welt, auch der schwäbischen.
Der regionale bis nationale Szene soll auch zukünftig im Festivalkonzept des Theaterhauses verankert werden. „Berlin Calling“ wurde vorgestellt und der gewitzte Pianist Patrick Bebelaar samt „Limes X“-Trio erneut eingeladen. Eine Überraschung lieferte Joe Lovano, der geschwind zu dem von dem Tenoristen (und Fagottisten) Libor Sima inszenierten Memorial-Projekt an den vier Monate zuvor an einer heimtückischen Krankheit verstorbenen Michael Brecker stieß. Tenorsaxofone en masse – eine wuchtige Würdigung.