Esslingen – 1966, also zwei Jahre vor 1998, ging es in der Berliner Philharmonie nicht nur musikalisch aufmüpfig zu: der Pianist Alexander von Schlippenbach präsentierte bei den Jazztagen mit seinem „Globe Unity Orchestra“ die erste Free-Jazz-Großformation Europas. Etliche Kompositionstechniken der Zeitgenössischen Musik wurden übernommen, den Improvisatoren wurden mitunter „totale“ Freiheiten gewährt. Und daß man in Karajans Musentempel anzugslos mit bunten Socken konzertierte – die war für das musikalische Bürgertum erst recht revoluzzerhaft.
War der 1938 geborene Schlippenbach zunächst primär als loyaler Pianist des legendären Manfred Schoof Quintetts bekannt, so konnte er sich zunehmend einen eigenen Namen machen. 1970 machte er mit zwei Kollegen aus der Schoof-Band ein Trio auf, eben zusammen mit dem Schlagzeuger Paul Lovens und dem Baßklarinettisten Michel Pilz. Noch im gleichen Jahr konzertierte er großorchestral wieder in Donaueschingen – mit dabei nun auch der Sopran- und Tenorsaxophonist Evan Parker. Beim „Jazz in der Dieselstraße“, wo jetzt speziell an 1968 erinnert wurde, wurde die seit 28 Jahren währende Freundschaft der musikantischen Art gepflegt und fortgeführt: Alexander von Schlippenbach tat sich nun mit dem 54jährigen Engländer Evan Parker und dem 1949 in Aachen geboren Paul Lovens, der lange Zeit in Italien lebte, zusammen.
Freilich im gereiften Alter geht es nicht bloß um Schönklangszertrümmerei. Man paßt sich dem System zumindest punktuell an und wird zumindest Dozent an einer Hochschule. Schlippenbach selbst wurde 1994 als erster mit dem von der Verwertungsgesellschaft „Gema“ finanzierten Albert-Mangelsdorff-Jazzpreis ausgezeichnet. Tonale Elemente sind jetzt durchaus erlaubt.
Wie in alten Zeiten ergingen sich die drei in geradezu endlosen Improvisationen – das erste Stück dauerte fast eine Stunde. Hier hauchte Evan Parker zunächst in sein Tenorsaxophon, und Alexander von Schlippenbach begann mit impressionistischen Akkorden. Alsbald befand man sich im intensitätsreichen Powerplay, ließ kurzfristig mal „blue notes“ und ein Wechselspiel mit Quart-Intervallen aufkommen. Dann ein Hiochgeschwindigkeitsklaviersolo mit feinen Patterns und Minimalismen, ehe Alexander von Schlippenbach mit einem gezielten „decrescendo“ zu einer lyrisch-balladesken Stimmung überleitete. Es folgten spieluhrenhafte Sequenzierungen, ein perkussiv eingesetztes Piano und Akkorde, die sich zu dissonant-herben Clusters verdichteten.
Viel „action“ – ein stetes Agieren und Reagieren, oft entwickelten sich kommunikationsfreudige Dialoge zwischen Klavier und Saxophon. Evan Parker erwies sich erneut als ein profunder Meister, wenn es darum geht, aus den „Grundklängen“ mittels Lippendruck und Luftströmung pfeifende Obertöne und pralle „harmonics“ herauszufiltern. Derweil bestätigte sich Paul Lovens als aufmerksamer Begleiter, der kaum die konventionelle Rolle eines „Timekeepers“ einnahm, sondern gewitzt mit Sounds arbeitete. Sein spartanisches Sammelsurium von Perkussionsinstrumenten ist eine glatte Absage an die internationale Schlagzeugindustrie. Früher traktierte Lovens, wenn ich mich richtig erinnere, gerne mit Vorliebe Mercedes-Radkappen, nunmehr schafft er mit dem glissandierenden Peking-Opern-Gong eine ganz individuelle Klangfarbe.
Nach der Pause deponierte Alexander von Schlippenbach blecherene Kochtopfdeckel und modifizierte Kuhglocken im Flügelinneren. Seine Frau Aki Takase spielte Mitte September zum Auftakt des Piano-Reigens in Esslingens Dieselstraße traditionell auf den Saiten mit Ping-Pong-Bällen. Derlei Verfremdungen gehören seit John Cage mittlerweile zur Norm. Auf dem Sopransaxophon blies Evan Parker minutenlang dank Zirkularatmung unterbrechungsfrei heftige Klangströme („sheets of sounds“). Eine Schau für sich war die „singende Säge“: Paul Lovens packte den mit Pferdehaaren bespannten Baßbogen am Frosch und strich seitlich einen „sägensreichen“ Fuchsschwanz – hohe jaulende Töne mit integriertem Nachhall. Wie könnte es anders sein? Nach den subtilen Klangexperimenten verfiel das „Alexander von Schlippenbach Trio“ wieder in Hochenergie-Kollektivimprovisationen. Nostalgie im gut gefüllten Kulturzentrum in der Dieselstraße 26. Das in Esslingen derzeit laufende „Projekt 68!“ bot Authentisches.