Helmut Lachenmann feiert seinen 90. Geburtstag

Helmut Lachenmann wird am 27. November 2025 neunzig Jahre alt. Der aus Stuttgart gebürtige Komponist zählt zu den prägenden Gestalten der Neuen Musik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sein Ansatz des sogenannten „instrumentalen Konkreten“ veränderte nachhaltig das Verständnis von Klang, Spieltechnik und musikalischer Struktur. Lachenmann stellte die Klangproduktion selbst ins Zentrum seiner Arbeit und erweiterte damit die ästhetischen Möglichkeiten des kompositorischen Denkens.

Seine Werke – darunter „Pression“, „Guero“, „Gran Torso“ oder die Oper „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ – erfordern von Interpretinnen und Interpreten gleichermaßen instrumentale Präzision wie eine genaue Auseinandersetzung mit der klanglichen Materialität. Sein Einfluss zeigt sich bis heute sowohl in der Komposition als auch in der pädagogischen Arbeit, etwa durch seine Lehre an der Musikhochschule Stuttgart und bei internationalen Kursen, unter anderem in Darmstadt.

In einer Zeit, in der sich aktuelle Musikproduktion zunehmend technischer Mittel bedient, bleibt Lachenmanns beharrliche Beschäftigung mit dem physisch erfahrbaren Klang ein wesentlicher Bezugspunkt. Sein Werk fordert Konzentration und Aufmerksamkeit – nicht als Selbstzweck, sondern als Einladung zu einem reflektierten Hören. Zum 90. Geburtstag steht ein Komponist im Zentrum der Aufmerksamkeit, dessen Positionen kontroverse Diskussionen angeregt haben und zugleich weitreichende Wirkung entfaltet haben.

Fotos: Hans Kumpf

Hans Kumpf studierte Anfang der 1970er Jahre an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg Musik bei Helmut Lachenmann und pflegt bis heute eine freundschaftliche Beziehung zu seinem ehemaligen Lehrer. Im Jahr 1974 befragte er Helmut Lachenmann für die Zeitschrift Jazzpodium bei einem „Plattentest“ zu verschiedenen Jazzaufnahmen. Lachenmanns pointierte und kritische Bemerkungen sind ein interessantes Zeitzeugnis.

(Jazzpodium / 1974)
PLATTENTEST MIT HELMUT LACHENMANN

Der 1935 in Stuttgart geborene Komponist Helmut Lachenmann, der zur Zeit Professor für Musik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg ist, wurde einmal von einer Zeitung als „einer der einfallsreichsten, klügsten und deshalb hoffnungsvollsten Komponisten der jungen Generation“ bezeichnet. Lachenmann studierte 1958–1960 in Venedig bei Luigi Nono, der als erster Komponist der Nachkriegs-Avantgarde durch sein entscheidendes politisches Engagement Aufsehen erregte. Über die gesellschaftspolitische Relevanz eines Tuns sagt Helmut Lachenmann u. a.: „Auf keinen Fall möchte ich für irgendeine gerade bestehende Gesellschaftsordnung oder gar für irgendeine Gesellschaftsschicht das erwünschte Dekor, die tönend bewegte Tapete liefern. Zugleich sehe und erwarte ich, daß meine Musik gerade als Resultat material-immanenter Auseinandersetzung — hierbei allerdings gibt es keinerlei Hinüberschielen zum Publikum — einen ganz charakteristischen, rationalen und emotionalen, oft auch je nach Temperament offen oder latent polemischen Kontakt zu welchem Publikum auch immer schafft. Es geht dabei um jenen Kontakt, der sich durchweg aufs Ästhetische bezieht und gerade dadurch eine Menge darüber hinausreichernder gesellschaftlicher, menschlicher, privater und öffentlicher Tabus beiläufig bloßlegt, bewußt macht und einen Lernprozeß in Bezug auf die Tabus auslöst — einen Lernprozeß, auf den es letztlich ankommt und von dem auch ich selbst mitbetroffen bin.“

Doch hier wird m. E. das Dilemma offenbar: Lachenmanns Musik ist doch zu esoterisch, seine Musik wird nur von einer minimalen, intellektuellen Schicht verstanden. Die große Masse, die einen Lernprozeß bitter nötig hätte, wird von der Musik Lachenmanns nicht erreicht. Außerdem muß ich bezweifeln, ob seine Musik, da sie nur musik-immanent operiert, besonders geeignet ist, Lernprozesse anzuregen.

Lachenmann schrieb Werke für Soloinstrumente, Instrumental- und Vokalensembles sowie für Sinfonieorchester. Allerdings hat er auch etwas praktische Erfahrung mit Jazz: während seiner Zeit in Venedig spielte er mitunter als Pianist in der Gruppe des Gitarristen Complesso Garatti (Erkennungsstück: Stardust) und nahm mit dieser Formation sogar eine Platte mit angejazzter Unterhaltungsmusik auf. Er breitet auch den AK Musick bei der Schallplattenaufnahme und verfaßte für das Platten-Beiheft einen kritischen Kommentar.
Hans Kumpf


Charles Mingus, John La Porta Sextet: Abstraction Period SPL 1107

Charles Mingus b und p, John La Porta as, Teo Macero ts, Oliver King tp, Jackson Wiley cello, Clem de Rosa dm. Aufgen. Dez. 1954 in New York.

Auf den ersten Eindruck hin scheint es eine originelle Form von Jazz zu sein. Das Stück arbeitet doch weithin als ziemlich manierierte Form von Blues. Dieses Cello-Solo ist für mich etwas Neues, ich habe noch nie ein Cello-Solo im Jazz gehört. Und nachher ist es auch wieder interessant, wie es sich integriert mit dem Saxophon, also mit den ähnlichen Tenorklang. Aber es kommt doch unheimlich die Aura von Cello und dessen Kultur ´rein, die ebenfalls ein bißchen verzerrt wird.

Bernd Alois Zimmermann: Introduzione I, aus „Die Befristeten — Ode an Eleutheria in Form eines Totentanzes“ Wergo WER 60031
Manfred Schoof tp, Gerd Dudek ss, Buschi Niebergall b, Jackie Liebezeit dm.

Ich glaube, man hätte noch mehr darüber sagen können, wenn man das noch weitergehört hätte, um noch ein bißchen in diese Zeit hineinzuhören, weil die Musik unheimlich die Zeit spannt. Hier sehe ich so etwas, wodurch der Jazz aus seinem Gefängnis, in dem er sich vom Klang und ganzen Typ her befindet, herausgelangt in andere Erfahrungen, ohne daß er gleich sein Gesicht ganz aufgeben muß. Die Spieler werden sich hier der Elemente bewußt, die sie benützen, und schauen die so ein bißchen an. Dadurch gibt es eine ganz gespannte Art von Zeit, und die hätte ich gerne ein bißchen länger gehört. Was mich dann einfach abstößt, sind die traurigen, gehaltenen Töne, die raufgeschmiert werden.

Hans-Joachim Hespos: Dschen Electrola SHZE 805 BL
Karl-Heinz Wiberny ts und bs, Rheinisches Kammerorchester, Leitung Thomas Baldner

Ein bißchen blaß für mich ist dieser Dualismus. Auf der einen Seite Spannung durch Sparsamkeit und auf der anderen Seite die reine Vitalistik, also die Emotionalität…überhaupt nicht gesteuert — nur aufs Instrument bezogen. Es gibt kaum Differenzierungsmöglichkeiten. Ich finde es schön zu hören, aber ich könnte mir noch ein paar andere Möglichkeiten, mit diesen Materialien zu arbeiten, vorstellen. Es kommt meinen Vorstellungen, wie man mit den Mitteln umgehen kann, manchmal ganz nahe. Aber an den emotionalen Stellen ist es dann völlig fremd für mich.

Pharoah Sanders: Preview JCOA LP-1001/2
Komposition von Michael Mantler
Pharoah Sanders ts, Jazz Composers’ Orchestra, Leitung Michael Mantler.
Aufg. 8. Mai 1968 in New York.

Ja, ich fand das ganz gut. Ich fand das einen Ableger aus Jazz, also einer Big Band. Aber der Kontrast zwischen diesen periodischen Einsätzen der Bläser und den losgelassenen Bewegungen im anderen hat die Sache wirklich spannend gemacht. Es klingt ein bißchen nach Studio. Als Material und organisierte Form mit diesem Kontrast drin, finde ich das eigentlich ganz schön, jedenfalls originell. Ist das deutscher Jazz, deutscher New Jazz oder wie kann man das nennen?

John und Alice Coltrane: Peace on Earth, aus ‘Infinity’ Impulse AS-9225
John Coltrane ts, Charlie Haden b, Rashied Ali und Ray Appleton, perc.
Alice Coltrane p, org, harp, vib, Streichensemble.
Originalaufnahme 2. 2. 1968, Neumischnung April 1972.

Eine unheimliche Mischung von Asiatischem — asiatischer Praxis, asiatischen Formen und Bewegungen — und dann andererseits möglicherweise schon zum Teil ihre amerikanisierte Form. … klingt nach vermittelt, nicht ganz direkt. Das Saxophon — oder ein analoges Instrument — klingt so ein bißchen nach Folklore, also für mich etwas suspekt in der Aufmachung. Aber andererseits klingt’s dann zeitweise unheimlich echt nach . . . : so was gibt’s in der japanischen oder asiatischen Zeitlosigkeit. Es ist eine Art von Unecht, aber eine sehr echte Art von Unecht. Ich dachte zuerst, es ist asiatischer Jazz — eine japanische Form von Free Jazz – aber wahrscheinlich hat es mit Jazz gar nicht so viel zu tun.

New Jazz Trio + Streichquintett: Feathered Friends, aus ‘Page Two’ MPS 21 21295-2
Manfred Schoof tp, Peter Trunk b, Cees See dm, Christl-Renate Wüstenbecker v, Koenraad Ellegiers v, Johannes Fritsch viola, Manfred Niehaus viola, Otello Liesmann cello. Aufg. 1971

Klanglich sehr schön, überhaupt den Anfang fand ich klanglich sehr interessant. Wenn es sich aber als einfaches, gerichtetes Crescendo entpuppt, als eine Verdichtung, daß es nachher eine Form wird, die kommt und sich wieder beruhigt, dann wird es wirklich ein Klischee. Aber innen drin, also innerhalb dieser klischierten Anlage, finde ich es eine schöne Musik, in einem ganz frischen Sinn schön. Man hört die ganzen Dinge nicht mehr als Verfremdung, sondern wirklich als organisches, zugeordnetes Material. Es ist im Grunde nicht auf eigenem Mist gewachsen. Hier habe ich wirklich das Gefühl, es sind Erfahrungen, die allerdings sehr vital und lebendig zum Beispiel aus Ligetis 2. Streichquartett oder aus ähnlichen Formen bei Penderecki herübergenommen sind. Ich glaube, in punkto spontaner Vitalität haben die Jazzer mehr Erfahrung, dadurch klingt es bei denen auch viel virtuoser in einem ganz guten Sinn, daß es sich bruchlos verbindet mit der Schönheit und der Klangqualität. Oft klingt ja das Virtuose ganz häßlich.

Ornette Coleman: Sunday in America, aus ‘Skies of America’ Columbia KC 31562
The London Symphony Orchestra, Leitung David Measham. Aufg. April 1972 in London.

Ich weiß nicht, ob es irgendeine Art Ballettnummer oder aus irgendeiner Handlung ist. Das erste Element ist so eine Manier, die sich an dem schönen aber frustrierten modernen Klang orientiert — die ganz klaren Phrasen und dagegen leicht innerlich bewegte Figuren. Es sind klar gesetzte Schichten, die einfach konfrontiert werden. Klingt nach manierierter Modernität mit — wahrscheinlich — Materialien von Jazz, zumindest die Instrumente; der Instrumentalklang als Kontrast zum orchestralen Streichersatz. Ich finde die Musik unheimlich einfach und unwichtig.

Brötzmann/van Hove/Bennink: For Donaueschingen ever FMP 0130
Peter Brötzmann b-sax, Fred van Hove p und celesta, Han Bennink perc, Zuspielband, Aufg. 25. Februar 1973 in Bremen.

Das ist dummes Zeug für mich. Alles direkte Wirkung, alles Klamauk. Alles abgestanden, auch von der Zitattechnik her, irgendwelche banale Formen zu zitieren und dann auch wieder diese Art von Vitalismus, die überall wieder auftaucht. Diese ganzen Emotionalismen kann man umeinanderschieben, wohin man will. Dummes Zeug — auf Deutsch.

Wolfgang Dauner Quartett: Über Musik Calig 30 603
Wolfgang Dauner voc, p, Eberhard Weber voc u. cello, Jürgen Karg voc und b, Fred Braceful voc, perc. Aufg. im April 1969

Ja, das finde ich auch dummes Zeug, anspruchslos. Auch eine Art von Virtuosismus, auch eine Art von Vitalismus und Verfremdung. Auch eine sehr direkte Wirkung. Ich meine, der Sinn dieser Sache oder der Unsinn dieser Sache – wie man es nennen will — ist eigentlich schon so oft abgehandelt worden. Es ist nicht schlimm — ich finde es auch nicht irgendwie eine Katastrophe. Es ist eigentlich ziemlich belanglos. Ich sehe nicht ein, warum man so was machen muß. Das kann man jederzeit reproduzieren, kann man jederzeit selber machen.

Cecil Taylor: Indent, Second Part Unit Core QCA 30555
Cecil Taylor p. Aufg. 11. März 1973, Antioch College, Yellow Springs.
(Es wurden im Plattentest lediglich drei Minuten vom Anfang vorgespielt)

Es imponiert mir. Ich bin nicht so zu Hause darin, aber das lehnt sich ein bißchen an die Praktiken von Thelonious Monk an, obwohl ich von dem noch nie so was in der Art gehört habe. Aber ich könnte mir denken, daß sich von dort her die Art des Klavierspielens überhaupt orientiert. Die ganze Synkopentechnik ist sehr auf dem Jazzigen. Ich könnte stundenlang so etwas anhören. Das finde ich ganz schön. Das ist aber nicht so eine direkte Wirkung, da ist immer eine andere Art von Unterschieden und Abwandlungen in einem ganz genau abgesteckten Bereich.

Alle Musikerfotos: Hans Kumpf

WordPress Cookie Plugin von Real Cookie Banner