Mit dem vorerst letzten Deutschlandkonzert der Sons of Kemet startet am 17. August der Fokus »Afrofuturism« in der Elbphilharmonie. Als erstes Konzerthaus in Europa widmet sie sich über drei Monate intensiv der Bewegung, die spätestens seit dem Marvel-Blockbuster »Black Panther« mitten in der Popkultur angekommen ist. Wie imaginieren afrikanische und afrodiasporische Menschen eine Zukunft, die in der eigenen Vergangenheit verwurzelt ist? Maßgeblich für die ästhetische Beantwortung dieser Frage war der Jazz-Gigant Sun Ra. Unter der Leitung seines Weggefährten, des 98-jährigen Marshall Allen, tritt das legendäre Sun Ra Arkestra im Großen Saal auf. Zudem sind einige der profiliertesten jüngeren Vertreterinnen und Vertreter des Afrofuturism in Hamburg zu erleben: Angel Bat Dawid & Tha Brothahood sowie die Jazz-Trompeter Chief Xian aTunde Adjuah (Christian Scott) und Theo Croker. Der Grammy-nominierte Saxofonist Ravi Coltrane erkundet einen Abend lang das Vermächtnis seiner berühmten Eltern John und Alice Coltrane. Begleitet wird der Fokus von einem umfangreichen Rahmenprogramm.
Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte eine allgemeine Begeisterung für Technologie und Fortschritt ein: Wettlauf ins All, Mondlandung, Science-Fiction-Romane. Schwarze Menschen entwickelten beim Blick in die Zukunft ganz eigene Vorstellungen – freiere Welten mit grenzenlosen Möglichkeiten der Selbstverwirklichung. Die Weiten der Galaxis als Fluchtpunkt vor Rassismus, Ausgrenzung und Demütigung. Schnell prägte diese »Afrofuturism« genannte Bewegung unverwechselbare ästhetische Prinzipien: Rückgriff auf die Bildsprache alter afrikanischer Zivilisationen und kosmische Spiritualität, später dann das Spiel mit elektronischer Klangerzeugung. Viele der aufregendsten jungen Musikerinnen und Musiker greifen heute wieder lustvoll in die Ferne und begeistern damit weltweit das Publikum.
Zum Auftakt des Schwerpunkts am 17. August gastieren die Sons of Kemet im Großen Saal – eine Jazz-Supergroup, zusammengestellt von Shabaka Hutchings, einer der prägenden Figuren der Londoner Szene. Hutchings wuchs erst in Großbritannien auf und zog dann nach Barbados, wo er musikalisch sozialisiert wurde. Die Sons of Kemet greifen Musik aus der ganzen Welt auf. Sie kombinieren westafrikanische Rhythmen mit karibischem Ska, Melodien und Skalen aus dem Nahen Osten mit Hip-Hop-Beats aus den USA. Die Musik der Sons of Kemet ist beides: politisch und tanzbar. Auf ihrem Album »Black to the Future«, das sie in der Elbphilharmonie präsentieren, stampfen und marschieren die Musiker geradezu in die Gehörgänge ihrer Zuhörerinnen und Zuhörer. Das Konzert in der Elbphilharmonie ist die letzte Gelegenheit, die Band in Deutschland zu erleben – die Sons of Kemet lösen sich nach ihren Sommer-Gigs auf.
Komponistin, Klarinettistin, Pianistin, Sängerin und DJ: Angel Bat Dawids Ausdruckswille kennt keine Grenzen. Ihr künstlerischer Gipfelsturm begann indes als freier Fall. Wegen einer Krebsdiagnose brach sie ihr Musikstudium ab, musste sich dann einen Brotjob suchen, um für die Kosten der Operation aufzukommen. 2014 kündigte sie, ließ sich auszahlen und investierte in Equipment. Schnell eroberte sie die Musikszene ihrer Wahlheimat Chicago, inzwischen gastiert sie in alle großen Metropolen. Ihr spiritueller Jazz handelt von Widerstand, von der Weigerung, sich einschränken zu lassen, vom ungezügelten Klang. Gemeinsam mit ihrer Band Tha Brothahood knüpft sie am 4. September an den Kollektivgeist des Sun Ra Arkestra an. Angel Bat Dawid verbindet Tanz und Meditation mit freien Improvisationen ohne Sicherheitsnetz.
Der Trompeter Chief Xian aTunde Adjuah (Christian Scott), der am 12. September im Kleinen Saal zu erleben ist, verfolgt ein musikalisch und kulturell radikal offenes Konzept der sogenannten »Stretch Music«. Er verarbeitet Einflüsse aus modalem Jazz, Hardbop, Fusion, Postrock, Elektronik und HipHop. Ekstatische Tonkaskaden ringt er seinem selbst entworfenen Hybridinstrument zwischen Trompete und Horn ebenso ab wie einen lyrischen, an Miles Davis erinnernden Ton. Sein neuestes Interesse gilt der »Adjuah’s Bow«, einer Art elektronischen Harfe, die von den malischen Saiteninstrumenten kora und donso n-goni inspiriert ist, und mit Hilfe eines Riemens vor dem Spieler gehalten wird.
Der Saxofonist Ravi Coltrane widmet sich dann Mitte Oktober unter dem Titel »Cosmic Music: A Contemporary Exploration into the Music of John and Alice Coltrane« der Musik und dem spirituellen Vermächtnis seiner berühmten Eltern. Ravi Coltrane kam 1965, zwei Jahre vor dem Tod seines Vaters, zur Welt. In »Cosmic Music«, benannt nach einer gemeinsamen Platte seiner Eltern, beschäftigt er sich nun das erste Mal direkt mit deren musikalischem Erbe. Zuvor hatte Coltrane in Projekten mit Zeitgenossen seines Vaters wie Elvin Jones und McCoy Tyner, aber auch mit Größen der jüngeren Generation wie Flying Lotus seinen eigenen expressiven Sound entwickelt.
In der globalen Isolation während Corona hat sich der Trompeter Theo Croker für den persönlichen Rückzug entschieden. Die Reflexion eines Lebens im Stillstand war sein musikalisches Anliegen, herausgekommen ist ein Album über sein afrikanisches Erbe und seine Identität als schwarzer Künstler in den USA. Croker, Jahrgang 1985, zählt zur Riege junger afroamerikanischer Jazz-Musiker, die den spirituellen Ansatz, den Afrofuturismus und das gesellschaftspolitische Bewusstsein der 60er-Jahre in die Gegenwart transportieren. »BLK2LIFE // A Future Past« erzählt die Geschichte eines Helden, der über ein Verständnis der Vergangenheit seine Zukunft bestimmt (26. Oktober, Kleiner Saal).
Der Einfluss des Sun Ra Arkestra auf die heutige Popkultur ist einmalig: 1952 vom Pionier des Afrofuturism Sun Ra gegründet, stieß der Bigband-Sound des Ensembles schnell vor in interstellare Sphären. Auf der Bühne standen Pharaonen aus der Zukunft, aus den Instrumenten kam kosmischer Free Jazz – immer »funky to the bone«, mit einer unmittelbaren körperlichen Dimension. Die Verknüpfung von Science Fiction mit der Bildsprache vergangener Zivilisationen war für die afroamerikanischen Musiker politisch. Im Blick hatte Sun Ra nicht nur die Zukunft, sondern auch eine Selbstermächtigung in der unmittelbaren Gegenwart. Am 13. November wird das Sun Ra Arkestra in der Elbphilharmonie vom Saxofonisten Marshall Allen geleitet – dem Weggefährten Sun Ras, der bis heute nichts an Charisma verloren hat.
Afrofuturism berührt alle Lebensbereiche der afrikanischen Diaspora: Musik, Literatur, Kunst und Film. Mit dem Begleitprogramm Elbphilharmonie+ wird der Blick auf das kulturelle Phänomen geweitet. Dreimal wird in den Zeise Kinos »Space Is The Place« (1972) gezeigt, das Schlüsselwerk rund um Sun Ra, der eine Fahrt ins All plant, bis ihm die NASA auf die Schliche kommt. Ein Workshop mit Enongo Lumumba-Kasongo, die an der renommierten Brown University lehrt und als Rapperin Sammus bekannt ist, gibt die Möglichkeit, noch tiefer in den unendlichen Kosmos des Afrofuturism einzutauchen.