Electronics können auch körperlich sein

Zwei Gruppierungen traten bei der SWR-NOW Jazz-Session auf 

Das Publikum wandelt im Saal herum, die Musiker wechseln ihre Positionen während des Konzerts, die Klänge wandern durch den Raum – dies wurde in Donaueschingen schon oft praktiziert, auch bei den SWR-NOWJazz-Sessions. Zur mehr oder weniger leidigen Tradition gehört es zudem, dass der Baden-Badener Südwestrunkfunk-Redakteur Reinhard Kager mit viel elektronischem Schnickschnack aufwarten lässt. Meist blieben hierbei die Steckdosen-Sounds der digitalen Apparaturen blutleer und lustlos. Ganz anders jetzt bei Thomas Lehn mit seinem Analog-Synthesizer, der nostalgisch an die sechziger Jahre erinnert mit Drehknöpfchen-EMS-Modell und pianistischer Klaviatur. Da gibt es anstatt miesepeterischem Gebaren freudig körperlichen Einsatz, die Intensität ist sicht- und hörbar.

Mit Thomas Lehn musizierten in der vorgeblichen Auftragskomposition „Listening“ fünf weitere „freie Improvisatoren“ aus der Schweiz, Frankreich und Deutschland, wobei die Aktionen der drei teilnehmenden Damen in der Regel theatralisch interessanter als musikalisch wegweisend gerieten.

Beim mitternächtlichen Konzert in der Sporthalle der Beruflichen Schulen blies Isabelle Duthoit unkonventionell die Klarinette und war auch vokalistisch aktiv, während die Sängerin Dorothea Schürch noch eine Singende Säge traktierte. Charlotte Hug konzentrierte sich auf eine kratzbürstige Bratsche.

Am Klavier saß und stand Jacques Demierre, der ausgiebig ins Innere des Instruments langte. Als prominentester Jazzmusiker stach Urs Leimgruber am Sopran- und Tenorsaxofon hervor. Eine Stunde lang „basisdemokratische“ Gruppenimprovisation, ohne solistische Extra-Eskapaden. Das Klangbild war mit dem punktuellen Gestus mehr in der Zeitgenössischen Musik angesiedelt als im alten Jazz. Schlussendlich doch noch eine Aufwallung zum furiosen Miteinander im hohen Klimax. Die beiden Genfer AMEG-Techniker Thierry Simonot und Rudi Decelière ließen mittels 250 Lautsprechern die live-Erzeugnisse umgehend im Saale sachte umherschweifen: „Sound and Space“.

Interaktives und kommunikatives Improvisieren der postseriellen Art auch im Trio des deutschen Multiinstrumentalisten Frank Gratkowski (Altsaxofon und vielerlei Klarinetten) mit seinen beiden von der Neuen Musik herkommenden amerikanischen Kollegen Chris Brown (Piano und Electronics) und Will Winent (Perkussion). Da lauschte man mit viel Feingespür für Nuancen und spann die Melodiemotive und Klangfarben behutsam weiter.

Optisch von Notenmaterial geradezu erdrückt wurde das Trio zu Konzertbeginn bei dem Stück „Bikini . Atoll“ des österreichischen E-Musik-Komponisten und Soundwerklers Gerhard E. Winkler, der mit seinem Apple-Notebook die analog eingefangene Musik sogleich digital transformierte. Zum Finale „atomisierte“ er diese in pures Knacken.

Bei so viel angewandter Technik in Donaueschingen wäre es doch angebracht, dass ein Kameraauge auf die Aktionen der Elektro-Macher gerichtet wird. Das Publikum könnte sich dann anhand eines Beamer-Bildes informieren, was da genau gedreht, geschoben und gedrückt wird.

Insgesamt eine recht gute SWR-NOWJazz-Session diesmal, die freilich nichts Weltbewegendes bot.

Auch bei den „regulären“ Uraufführungskonzerten waren heuer erneut Jazzanwandlungen zu konstatieren. Der 1971 in Paris geborene Franck Bedrossian nannte sein Stück für 11 Instrumente des Brüsseler Ictus-Ensembles zwar „Swing“, doch so heißt schließlich ja auch ein Kaffee und ein Mülleimer… Mit dem Jazz-Stil und der rhythmischen Elastizität hatte das Werk nur sehr sporadisch etwas zu tun, wenn der Dirigent im Viervierteltakt gemeinsame Aktionen im Bebop-Gestus steuerte, das Altsaxofon mal reinrotzte oder der Pianist mal schlippenbachhaft clusterte.

Einst blies Rolf Riehm Saxofon in der Frankfurter Vereinigung „Sogenanntes Linksradikales Blasorchester“ von Heiner Goebbels und Alfred Harth, jetzt präsentierte der emeritierte Musikprofessor sein (fragloses) Sinfonieorchester-Opus „Wer sind diese Kinder“. Zu Beginn – für Donaueschinger Verhältnisse ungewohnt – ausführlich „talking drums“ und dann immer wieder Passagen, die harmonisch und rhythmisch an Jazz anknüpften.

Rolf Riehm

Urs Leimgruber, Isabelle Duhout, Thomas Lehn

Ictus Ensemble

Gerhard Winkler

Thomas Lehn

Frank Gratkowski

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