„Der Rote Bereich“ in der Rüsselsheimer Jazzfabrik, 30. November 2006

„Es ist ein ernstes Stück“, vermeldet Frank Möbus. „Schon vom ersten Klang an“, fügt er nach einer kleinen Pause hinzu. „Ein ganz und gar ernstes Stück.“ Dann zupft der Vordenker des Trios „Der Rote Bereich“ eine kurze Melodielinie, weitet sie zu einem elektronisch verfremdeten Lauf auf den Saiten aus, den Rudi Mahall mit rhythmisch ostinaten Akkordeinwürfen der Bassklarinette unterlegt. Ein Wechsel in der Melodieführung bahnt sich an. Mahall schleudert ein expressives, überblasenes Solo hinaus, kurze Riffs zu den Akkord-Variationen auf der Gitarre. Und die Basis dieser Duo-Exkursionen, die jeweils in einen Unisono-Break von Saiten- und Holzblasinstrument einmünden, ist das stetig pulsierende Schlagzeug von Oliver Bernd Steidle.

„Anderes Obst“ lautet der ganz und gar nicht ernst gemeinte Titel dieser Komposition, der eine spontane Improvisation ohne Titel folgt, die mit einem schnalzenden Knall und einer kurzen bluesigen Harmoniefigur auf der Bassklarinette eingeleitet wird. Mahall lässt sein Instrument in hohen Lagen gurgeln und zwitschern, verfällt in eine zarte Mehrstimmigkeit und endet in einem scharfen Pfeifton. Möbus begleitet diesen Ausflug ins freie Spiel mit sanften und getragenen Sounds auf den Saiten, Steidle streicht zarte Rhythmen mit dem Besen auf den Drums. Das Stück gewinnt an Dynamik und Intensität, die Sticks knarzen auf den Becken, die Luftsäule in der Klarinette flattert, die Notenketten auf der Gitarre vibrieren. 

„Wir spielen Songs über die wir die Kontrolle verlieren“, hat Möbus einmal gesagt. Die Zuhörer beim Konzert der Rüsselsheimer Jazzfabrik in der nüchternen alten Opel-Werkshalle A1 glauben eher an ein gebändigtes Chaos. Unbändige Fantasie bestimmt das Geschehen, die Lust an der musikalischen Anarchie, unberechenbares Querdenken, das Ausloten der technischen Möglichkeiten und die Freude an der Provokation. „Der Rote Bereich“ mutet den Zuhörern ein Stück zu, das mit heulenden und kreischenden Ton-Frequenzen aus dem E-Bow auf den Gitarrensaiten die Schmerzgrenze der Gehörgänge tangiert, während die Bassklarinette orgiastische Stakkati stammelt und das Schlagzeug rasende Wirbel schlägt.
Mahal windet sich und ist in steter Bewegung, während er auf der Bassklarinette energetisch nervöse Läufe überbläst, Möbus ist mit seinen Füßen beständig auf der Suche nach den richtigen Pedalen und Knöpfen der vielfältigen Elektronik und kniet manipulierend zwischendurch vor seinem Minisynthi, während dieser mit Hall und Schleifen kurze Akkordblöcke wiederholt.  

Ironie, Dadaismus, Provokation, die Erfahrungen von Blues bis Free, die Energie des Rock, Formen der E-Avantgarde, Spielfreude und Kommunikation – all dies bestimmt den schrullig-schönen Jazz der Berliner Gruppe. Bewusst übertriebene Naivität kennzeichnet auch die Zwischenmoderationen. „Ist es zu laut?“, fragt Möbus. „Das liegt nicht an uns“, ergänzt Mahall. Wieder Möbus: „Der Raum hat eben seine Tücken!“ Dann nach einer Zugabe, die sich als Persiflage von Zirkusmusik interpretieren lässt und in der Steidle zirzensisch die Stick wirbeln lässt, sowie nach einem allerletzten erklatschen Stück auf der Grundlage eines portugiesischen Fado dürfen die Zuhörer „mit dem Gefühl nach Hause gehen, dass es doch ein ganz netter Abend war“ – sagt Möbus. Stimmt! Alles war im grünen Bereich. 

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