STUTTGART. Das Vorurteil, er habe „Take Five“ erfunden, kann Dave Brubeck wohl verschmerzen. Tatsächlich stammt der Welt-Hit im Fünfvierteltakt von Paul Desmond, dem vormaligen Altsaxofonisten des Pianisten. Gleichwohl darf die Nummer aus dem Jahre 1959 bei keinem Brubeck-Konzert fehlen – die obligatorische Zugabe. Im Rahmen einer neuen „JazzNights“-Runde gastierte die mittlerweile 81jährige Jazz-Legende wieder in Stuttgart. Im Beethovensaal fanden sich lediglich rund achthundert Zuhörer ein und erlebten einen höchst kreativen Künstler, dem man keineswegs einen Altersmitleidsbonus zugestehen musste. Sein vom Fernsehen aufgezeichneter (und leider nicht als DVD veröffentlichter) Auftritt im Juli 2001 bei den „JazzOpen“ geriet zum Höhepunkt des Festivals.
Jetzt knüpfte Dave Brubeck daran an, als er nochmals das Titelstück „The Crossing“ seiner neuen CD intonierte. Fast ein Stück Programmmusik, wie die „Queen Elisabeth II“ mit lautem Getute den New Yorker Hafen verlässt und mit hundert Jazzern und noch mehr Fans an Bord sich auf die Kreuzfahrt zum Alten Kontinent aufmacht. Zu hören sind sodann eine stürmische See und eine fulminante Musik.
Faszinierend, wie der große Mann des Cool Jazz im hohen Alter recht „hot“ in die Tasten zu greifen mag, und seine ebenfalls weißhaarigen Kollegen agierten adäquat in gleichen Intensitätsgraden. Besonders der gewichtige Bobby Militello profilierte sich da, nämlich als rasanter Altsaxofonist im Bebop-Metier. „Take Five“ funktionierte der Drummer Randy Jones zu einer rhythmischen Rock-Attacke um, während Michael Moore mitunter seine Kontrabasssaiten nicht nur zupfte, sondern beherzt mit dem Bogen strich, beispielsweise in einem auf 16 Takte erweiterten Blues.
Stilistisch variabel zeigte sich der am 6. Dezember 1920 im kalifornischen Concord geborene Brubeck. Sein Faible für Johann Sebastian Bach offenbarte er wiederholt, wenn er barockale Linien fugativ verästelte. Coole Kontrapunktik fand alsbald einen Kontrast in dissonierenden – „cluster-haften“ – Blockakkorde der rechten Hand. Außerdem: Hier „strammes“ Stride-Spiel, dort liebevolle Lyrismen.
Vertrauten Schlagern wie „I Got Rhythm (George Gershwin), „Take The A Train“ (Duke Ellington) und „Love Is Just Around The Corner“ (Lewis E. Gensler) gewann das amerikanische Quartett nette Aspekte ab: Sichtlich eine Lust zu spielen, zweifellos eine Lust zuzuhören. Brubecks aktuelle Eigenkomposition „Energy“, in der Militello elegant Flöte blies, erinnerte zunächst an schicksalsschwangere Filmmusikharmonien von Ennio Morricone, um dann auf der phrygischen Skala in das spanische Flair von Joaquin Rodrigos „Concierto de Aranjuez“ zu wechseln.
Nicht als „Opener“, sondern zum Finale trat Biréli Lagrène an, denn das eigentlich muntere Altherrenquartett um Dave Brubeck wollte vor Mitternacht zu Hotelbette gehen. Seine große Karriere startete der Gitarren-Virtuose 1980 als „Wunderkind mit Zigeunerblut“ 14jährig in Stuttgart. Der aus der Slowakei stammende Bassist Jan Jankeje hatte das im elsässischen Soufflenheim aufgewachsene Talent unter seine Fittiche genommen und mit ihm „live“ eine Platte unter dem bezeichnenden Titel „Routes to Django“ eingespielt. Als Twen favorisierte Lagrène zwischenzeitlich Rockmusik und dröhnende E-Gitarre, jetzt ist er zu den akustischen Wurzeln und zu Übervater Django Reinhardt zurück gekehrt. „Gipsy Project & Friends“ betitelt er entsprechend seine neueste CD.
Anfangs klang das schlagzeuglose Quintett im Stuttgarter Kultur- und Kongresszentrum Liederhalle ziemlich harmlos und bieder: Lagerfeuerromantik im Halbdunkel. Zunehmend gewann jedoch das Musizieren an Vitalität, wobei Biréli Lagrène freilich sich als dominante Figur bestätigte. Da zupfte er in Standards immer wieder Atem beraubenden Läufe und zauberte grazile Flageoletts hin. Weit mehr der Tradition verbunden verblieb der rumänische Geiger Florin Niculescu, der zudem in einer Solokadenz – wie Dave Brubeck in der ersten Konzerthälfte – seine Bewunderung für Barockmeister Bach zum Ausdruck brachte. Die undankbare Aufgabe als „musikalische Wasserträger“ übernahmen die beiden „schrummelnden“ Rhythmusgitarristen Thomas Dutronc und Hano Winterstein, und der Kolumbianer Diego Imbert agierte ebenso zuverlässig im Hintergrund.
Die nächste Ausgabe der „JazzNights“ in Stuttgart findet am 4.12.2002 im kleineren Mozartsaal vom KKL statt. Angesagt sind die Formationen des Trompeters Terence Blanchard und des Posaunisten Nils Landgren.
(Oktober 2002)