Die beiden ersten Stücke des Abends spiegeln die Spannweite der Musik wieder, in der sich der Pianist Chris Jarrett bewegt. „Prayer“ zeigt den suchenden, tastenden Komponisten, der hingetupfte Single-Notes und versprengte Akkorde zusammenfügt, ein getragenes, lyrisches und melodisches Stück aufbaut. Ein Pianist, der behutsam und mit zurückgenommenem Anschlag die Stimmung des nachdenklichen Gebetes schafft. Das nachfolgende „Guten Abend“ zeigt dagegen einen Künstler, der mit freien Expressionen Harmonien aufreißt, sprunghaft die Dynamik verändert, in rasend schnellen Passagen förmlich explodiert. Unter diesen vehementen Läufen der rechten Hand liegen die ostinaten Bassfiguren der linken – eines der Merkmale, die sich in den meisten der Kompositionen von Chris Jarrett wiederfinden und eines der wenigen Charakteristiken, die den Spätgeborenen mit seinem weltberühmten Bruder Keith Jarrett verbinden. Ansonsten hat sich der Musiker, der an diesem Abend länger als zwei Stunden die Zuhörer in der „Alten Patrone“ als Solist auf dem leider etwas schwachbrüstig klingenden Klavier fesselt, schon lange aus dem Schatten des ebenfalls Piano spielenden Stars gelöst.
Chris Jarrett wehrt sich dagegen, als Jazzmusiker bezeichnet zu werden. In der Tat greift er weniger auf die Jazz-Tradition zurück. Ballettmusiken – sehr einfühlsam etwa für „Anne Frank“ – hat er geschrieben, historische Filme wie den „Panzerkreuzer Potemkin“ auf intensive und unterstreichende Weise mit Musik unterlegt, Literaturlesungen sensibel begleitet. „Legends“ nennt er folgerichtig seine Kompositionen, die eher beschreibenden Charakter haben, assoziativ wirken. „Ave Crux“ eine Variation über ein Kirchenlied, „Prairie Tale“, eine Erzählung, die musikalisch den Wind und wilde Pferde über die Steppe treibt, „Battle“ mit seiner kompositorischen Umsetzung des Schlachtengetümmels oder ganz offensichtlich „Ghost at the door“, in dem Jarrett den Geist mit der Hand an das Instrument klopfen lässt, bevor dieser sich mit rollenden Bassfiguren in Szene setzt. Auch „Voices“ ist ein solch bildhaft in Töne gesetztes Stück. „Transitions“, das letzte Stücke vor den zahlreichen Zugaben, wechselt nach seinem hochenergetischen Powerplay, den schnellen Läufen auf der Stelle, den rhythmischen Akzentuierungen und den Unterarm-Clustern über den rollenden Bässen zu einem melodischen und verspielteren Teil über.
Zu hören sind an diesem Abend Themen mit den vehement rumorenden Figuren in den Bässen und den verspielten, perlenden kurzen Melodielinien in den höheren Lagen. Durchgehend wie ein roter Faden aber die intensiven Variationen des Themas, das Auskosten des Volumens des Klangkörpers (soweit dies das Instrument dieses Mal erlaubte), das Spiel mit der Dynamik, die Spannung aus den rhythmischen Verzögerungseffekten und das Stehenlassen der ausschwingenden Töne. „Improvised Preludes“ weisen dann doch auf eine Verbindung zur Jazzimprovisation hin – auch ohne sich in der Phrasierung stilistisch festlegen zu lassen.
So verbindet Chris Jarrett Impressionistisches mit Liedhaftem, Klassik mit Jazz, Folklore mit Choral und Minimalmusik mit Free-Explosionen. Erleichtert wird dies durch eine Technik, die Jarrett offensichtlich im Hochgeschwindigkeitsspiel und – trotz harten Abschlags – in der Dynamik kaum Grenzen setzt.