
Text und Fotografien: Hans Kumpf
Jazz Pianist Chris Gall ließ auf dem Steinway in Halls Hospitalkirche ohrenwohlgefällig Nostalgisches und Weltmusik erklingen
Als ich vor über vier Jahrzehnten nach gemeinsamen Aufnahmen mit der „Radio Jazz Group“ von Wolfgang Dauner durch Stuttgart gefahren wurde, ließ der Pianist zu meiner Überraschung im Auto nicht aufregende Avantgarde, sondern kontemplative Musik von Claude Debussy (1862-1918) laufen. Der französische Tonschöpfer mag den schwäbischen Meisterjazzer auch zu dessen inzwischen ziemlich populären Kompositionen „Trans-Tanz“ und „Wendekreis des Steinbocks“ inspiriert haben. Variantenreiche Wiederholungen und allmählicher Aufbau der Stücke werden hier zum tragenden Stilmittel.
Zufall oder nicht: An Dauner erinnernde Déjà–vu-Klangerlebnisse stellten sich mitunter ein, als Chris Gall bei einer vom Konzertkreis Triangel gemeinsam mit dem Kulturbüro verantworteten „Jazztime“-Veranstaltung auftrat. Ein wirkliches „unplugged concert“ auf einem unverstärkten Steinway-Flügel. Nicht einmal für die freundlichen Ansagen benötigte Gall ein Mikrofon.
Als im Oktober 2015 Gall als Gastmusiker der famosen Weltmusikformation „Quadro Nuevo“ in Schwäbisch Hall auftrat, begeisterte der Pianist die Macher Werner Feucht und Kurt Hohenstein vom „Konzertkreis Triangel“ derart, dass die beiden ihn spontan zu einem eigenen Konzert engagierten.
Bei keinem kammermusikalischen Recital von Chris Gall, geboren 1975 in Bad Aibling, darf ein Stück aus Debussys „Children’s Corner“ fehlen: „Le Petit Berger“ alias „Der kleine Hirte“. Wie auf seiner CD „Piano Solo“, so trägt er zunächst die einleitende einstimmige Melodie von zwei Dutzend leisen lyrischen Tönen notengetreu vor, um dann im dritten Takt lautstark einen hakenschlagenden Schnelllauf vom Bass bis zum Diskant hinauf einzubauen. Dann interpretiert Gall die nächsten zwölf Takte genau nach Vorlage und geht unmerklich ins Improvisatorische über – schön swingend und angereichert mit „blue notes“. Das in A-Dur geschriebene Stück weist reizvoll eine orientalische Atmosphäre auf.
Claude Debussy, Protagonist des musikalischen Impressionismus, war ja fasziniert von balinesischer Gamelanmusik, die er 1889 auf der Pariser Weltausstellung erleben konnte, und entfernte sich immer mehr von der althergebrachten Funktionsharmonik Europas. Stets das Gleiche, aber immer wieder anders – dies ist sozusagen das Merkmal der Hochkultur-Musik auf der indonesischen Insel, wobei man schon beim Begriff „minimal music“ angelangt wäre. Und da sind heutzutage die US-amerikanischen Komponisten Terry Riley, Steve Reich und Phil Glass zu nennen. Der Bayer Chris Gall liebt diese Pattern-Musik mit den winzig kleinen Fortschreitungen und Variationen in Rhythmus, Melodielinien und Klangfarben. Musikalische Entwicklungen in aller Ruhe – wie noch im indischen Raga-System.
Dies demonstriert Gall, der nach seiner klassischen Klavierausbildung am renommierten Berklee College in Boston angewandten Jazz studierte, auch bei seinen komplex durchkalkulierten Kompositionen: „My Waltz“, „Empty, Pale Blue Paper“ mit irisierenden Sounds, „Yorke*s Guitar“ mit den an Intensität gewinnenden Aufschichtungen oder das im Viervierteltakt kreiselnde und spieuhrenhafte Stück „Children’s Daydream“. Der weitgehend impressionistische Ansatz erlaubte bei der Solo-Performance in der stimmungsvollen Hospitalkirche trotz alledem immer wieder kontrolliert extrovertierte Aktionen. Außer glitzernden asiatischen Anklängen bot der global agierende Gall auch Reminiszenzen aus Südamerika, namentlich Brasilien und Argentinien.
Ohne Zugabe ließen die siebzig Zuhörer den großen Minimalismus-Künstler (im strubbeligen Look von Jamie Cullum) nicht gehen. Besonnene Wohlfühlklänge zur besinnlichen Weihnachtszeit: Impressionistische Musik nicht ohne Expressionismen im romantischen Feeling. Da durfte auch mal Frédéric Chopin durchschimmern.