Im Herbst 1984 nahmen der Pianist Harry Tavitian und ich im Stuttgarter Tonstudio Zuckerfabrik mit dem Toningenieur Johannes Wohlleben innerhalb von zwei Stunden genügend Material für eine LP auf. In seiner rumänischen Heimat veröffentlichte Tavitian das historische Dokument auf Musik-Kassette 1994, also genau „ten years after“. Jetzt schlug er mir vor, unsere Improvisationen zum 20-jährigen Jubiläum auf Compact Disc herauszubringen. Am einfachsten und billigsten ist dies heutzutage im Eigenproduktionsverfahren „CD On Demand“ zu bewerkstelligen.
Harry schlug folgende Auswahl vor:
Harry Tavitian p, fl, voc
Hans Kumpf cl
OPEN END
01. First Time Together 3:16
02. Transylvania On My Mind 5:57
03. Etude 7:00
04. Drug Ula Blues 5.45
05. Blowin‘ With The Wind 4:39
06. Chamber Mood 5:59
07. August ’82 5:16
08. Lazy Friday Afternoon 8:35
09. The Cry Of The Balkans 7:27
10. Open End 5:36
Persönlich halte ich zwei Stücke für besonders interessant, nämlich den verschmitzten „Drug Ula Blues“ und die minimalistische als auch intensitätsgeladene Abschlussnummer „Open End“, die dem Tonträger den Namen gab.
In den Liner Notes schrieb Harry Tavitian u.a.:
“Now, the musicians of the East and West have no problem to play together. Hans came up with a big surprise for me – he hired the well known Tonstudio Zuckerfabrik Stuttgart for two hours. I thought I was dreaming. At home, I had great records of famous jazz musicians, which were recorded in that studio. And all of a sudden, I find myself in there, doing my own recordings. Unbelievable. Our music was born naturally, spontaneously, just like our friendship. When I went to Germany in 1984 I thought the Ceauşescu regime will last forever. On my way back home I didn’t have much hope to see The West again. Not to mention, to play with Hans again. It seems like the end is always open, thou”. Zitatende Harry Tavitian.
1985 besuchte ich in den Sommerferien Rumänien erstmals – Harry organisierte dort für mich Konzerte u.a. in Bukarest und beim „Costinesti Festivalul de Jazz”. Unser Auftritt bei diesem Festival drei Jahre später wurde in Rumänien bereits im Oktober 1988 auf Vinyl-Platte hearausgebracht – noch in der Ceaucescu-Ära…
Die CD „Open End“ verschicke ich für jeweils 12 €uro pro Stück zuzüglich 3 €uro für Porto und Verpackung.
Kontakt:
Hans Kumpf
Schweickerweg 70
D-74523 Schwäbisch Hall
Tel./Fax: 0791- 9 46 99 20
E-Mail: HakuMurr@aol.com
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Freitag, 11. Mai 1990, 23.05 Uhr, NDR 3. Reihe ,Jazz Laboratorium“
Jazz in Rumänien – der Pianist Harry Tavitian
Eine Sendung von und mit Hans Kumpf
(Anmoderation in Hamburg)
Guten Abend meine Damen und Herren,
diese Sendung wurde bereits geplant, bevor im Dezember letzten Jahres der Umsturz erfolgte. Die Vergangenheit und Gegenwart des Balkanstaates sind durch diese gesellschaftspolitischen Ereignisse bei uns in den Mittelpunkt des Interesses gerückt worden. Schon zu Zeiten von Ceausescu gab es eine doch sehr rührige Jazzszene in Rumänien, freilich wurde das swingende Musizieren nach der Entledigung des wahnsinnigen Despoten wirklich frei. Harry Tavitian aus Constanta am Schwarzen Meer ist der führende Jazz-Avantgardist des Landes – und ein äusserst beliebter Blues-Sänger dazu. Diesem Pianisten sei die heutige Ausgabe vom „Jazz Laboratorium“ gewidmet.
Hören Sie bitte zur Einstimmung den Anfang vom ersten Titel der ersten Schallplatte von Harry Tavitian. Tavitian liebt es, langandauernde Werke einzuspielen – deshalb müssen auch andere Musikbeispiele in dieser Sendung gekürzt werden. Aufgenommen wurde das auf ein traditionelles rumänisches Hochzeitslied basierende Stück 1980 beim Jazz Festival in Sibiu, in Hermannstadt also. Erschienen ist die LP allerdings in London bei dem auf Ost-Underground spezialisierten Label ,,Leo Records“. Mit dem Pianisten Harry Tavitian spielen der Geiger George Manescu und der Bassist Catalin Frusinescu.
Harry Tavitian & Creativ: Horizons
Leo Records LR 124
THE BRIDE’S MARCH
ausbl.
04:30
A-1
trad/arr Harry Tavitian
Alissa Publishing Co.,PRS
*
Das war ein altes rumänisches Volkslied, bearbeitet von Harry Tavitian, der hier selbst Piano spielte. Seine Mitmusiker waren George Manescu, Violine, und Gatalin Frusinescu, Bass. Ein im März 1980 in Hermannstadt gefertigter Festivalmitschnitt fand auf verschlungenen Wegen nach England, wo dieses Dokument als Schallplatte einer grösseren Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist.
Dass der stilistische Aktionsradius von Harry Tavitian beträchtlich ist, hat man selbst bei der qualitativ relativ schlechten Aufnahmequalität heraushören können. Free und Folk, Bongte und Blues – Harry Tavitian führt einen Gemischtwarenladen vor, und ein derart stilistisches Konglomerat praktiziert so mancher Jazzer in Osteuropa. Populistisches und Exzentrisches – Harry Tavitian bringt Widersprüchliches zusammen; ob dies immer auf eine überzeugende Art und Weise geschieht, sei dahingestellt. Aber die praktizierte Vielseitigkeit liegt auch in Tavitians Biografie begründet. Als 6jähriger begann er das Klavierspiel mit klassischer Musik, mit 16 Jahren hatte er ein Schlüsselerlebnis, als er den Memphis Slim bei einem Konzert in Rumänien hörte und dann sofort diesen Bluesmann vokal und instrumental kopierte. Erst bei seinem Musikstudium in Brasov kam er in Kontakt mit Jazz, und damals war er bereits 21. Zunächst Cecil Taylor und dann Thelonious Monk – das waren weitere „Schocks“ für ihn, wie es Tavitian einmal selbst formulierte.
Hätte Harry Tavitian sich nicht als Bluesmusiker verdingt, so wäre er 1984 auch nicht ins westliche Ausland gelangt. Zur Sommerzeit wird er immer wieder von Bars und Restaurants am Schwarzen Meer als singender Entertainer verpflichtet: schliesslich soll die touristische Kundschaft, die begehrte West-Devisen ins Land bringt, aufs Angenehmste unterhalten werden…
*
Harry Tavitian & Co.
Eigenaufnahme (38 cm/sec)
BLUES
01:35
Wortzuspielband-3
*
Einen Harry Tavitian, der schwarzen Blues singt, hörte auch ein städtischer Beamter von Fellbach bei Stuttgart. Der Mann, der mit einer Rumänin verheiratet ist, setzte alle Hebel seiner Verwaltung in Bewegung, um Tavitian für ein Konzert einzuladen, und beherbergte ihn auf private Kosten drei Wochen lang. Von Virgil Mihaiu, dem rumänischen Korrespondenten-Kollegen der internationalen Zeitschrift „Jazz Forum“, wurde ich rechtzeitig von Tavitians beabsichtigter Deutschlandreise informiert. Zufall war, dass sein Zielort und mein Heimatort nur wenige Kilometer auseinander lagen, deshalb konnte ich Harry Tavitian oft treffen, für ihn weitere Club-Auftritte organisieren, ihn zu Konzerten mitnehmen – und mit ihm in ein Tonstudio gehen.
Dort vollführten wir eine spontane Session, es war unser erstes gemeinsames Musizieren überhaupt. Am 18. November 1984 spielten wir – neben viel Avantgarde-Jazz – auch eine Blues-Paraphrase ein, die wir verschmitzt „Drug Ula Blues“ nannten. Pianist Harry Tavitian bläst dabei noch Flöte – und ich Klarinette.
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Harry Tavitian + Hans Kumpf
Eigenproduktion (38 cm/s)
DRUG ULA BLUES
05:55
MusikTb-vorletztes Gelbband
comp Hans Kumpf
Mskrpt
,,Drug Ula Blues“ nannten wir – also Harry Tavitian (Piano und Flöten) und Hans Kampf (Klarinette) – dieses Stück, das wir 1984 im Stuttgarter Tonstudio ,Zuckerfabrik“ improvisierten.
Leo Feigin bat mich telefonisch aus London, von Harry Tavitian in bester westlicher Studioqualität noch ein Solo aufnehmen zu lassen. Es heisst „Spring- time. In The Memory Of Armenian Martyrs“ und gründet sich auf ein Thema des armenischen Komponisten Komitas – auch Harry Tavitian ist, wie sich ja leicht aus seinem Nachnamen ableiten lässt, armenischer Abstammung. Seit der Vertreibung und dem Massenmord 1915 durch die Türken leben viele Armenier in Rumänien. Für Harry Tavitian persönlich bedeutet die Akkulturation eine Bereicherung für seine künstlerische Aussage.
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Harry Tavitian & Creativ: Horizons
Leo Records LR 124
SPRINGTIlME IN TUE MEMORY…
ausbl.
05:00
B-1
comp Komitas/arr Harry Tavitian
Alissa Publishing Co. ,PRS
*
Harry Tavitian interpretierte die Komposition ,,Springtime“, ,,Frühling“, die an die Opfer seines armenischen Volkes erinnert. Der Jazz in Rumänien profitiert von den vielen kulturellen Traditionen der verschiedenen Volksgruppen, und zwischen den intellektuellen Künstlern sind nationale Spannungen ein Unding. Yancy Körössy ist ein prominenter rumänischer Pianist ungarischer Abstammung, und der Gitarrist Toni Kühn beispielsweise spricht bestens deutsch als auch rumänisch – und fällt keineswegs der deutschnationalistischen Propaganda „Heim ins Reich“ zum Opfer. Jazz ist auch in Rumänien ein ehrliches Mittel zur ,,inter“-nationalen Völkerverständigung.
Zurück zu Harry Tavitian und zu seinem Aufenthalt Ende 1984 in Baden-Württemberg. Wie hat er die Reaktion des bundesdeutschen Publikums auf seine Darbietungen empfunden?
Harry Tavitian Interview
Eigenaufnahme (38 cm/sec)
(RUMÄNISCH)
01:53
Wortzuspielband-1
darüber Übersetzung:
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,,Ich glaube, dass viele Leute in meinen Konzerten begeistert waren, besonders von meinen Blues- und Boogie-Woogie-Darbietungen. Wenn man einen Vergleich zwischen dem deutschen und rumänischen Publikum anstellt, so kann man sagen, dass die Rumänen herzlicher und aufnahmebereiter sind. Die Deutschen lassen sich nicht so leicht mitreissen. Aber wenn einmal der Funke übergesprungen ist, dann sind sie begeistert.
Für mich war es ein gutes Erlebnis und eine interessante Erfahrung, mit westdeutschen Musikern zusammenzuarbeiten. Ich brauche, und ich glaube wir alle brauchen dies: eine Kooperation, einen Erfahrungsaustausch. Im letzten Sommer machte das ROVA-Saxophonquartett aus San Francisco eine einwöchige Rumänien-Tour, an der ich teilnehmen konnte. Das war phantastisch. Jetzt habe ich mit westdeutschen Musikern gemeinsame Sache gemacht – eine unterschiedliche Erfahrung, weil die deutschen Musiker eine andere Tradition haben. Ich bin ehrlich, wenn ich sage, dass wir alle diese Formen von Zusammenarbeit brauchen. Die Freundschaft schliesst die Wertschätzung für den Geist der jeweils anderen Musikkultur ein, und das hilft jedem.“
Harry Tavitian versprach, für mich in Rumänien Konzerte zu organisieren. Also jettete ich erstmals 1985, als Sommerurlauber getarnt, ans Schwarze Meer. Mit der Visumsbeschaffung hatte ich keinerlei Schwierigkeiten, diese wurde im Flugzeug erledigt. Der Zollkontrolle entging ich glücklicherweise, und somit wurden die zwanzig mitgeschleppten Tavitian-Schallplatten, die ich im Auftrag von Leo-Records ins Land schmuggeln sollte, nicht bemerkt. Doch als mein Gastgeber in der Ankunftshalle des Flughafens Constanta auf mich zuging, wurde er sofort von einem Aufpasser erfasst, seine Personalien wurden in einem dicken Buch festgehalten.
,,You Are Under Arrest“, erklärte mir Harry Tavitian – und spielte somit auf das Album von Miles Davis als auch auf die Zustände im damaligen Rumänien an. Er verfrachtete mich nämlich gleich in einen Lada, der mich nicht ins Ferienhotel, sondern nach Bukarest bringen sollte. Dort war nämlich am Abend ein Konzert geplant mit der Jazz-Elite Rumäniens. Für die über zweihundert Kilometer brauchten wir rund fünf Stunden. Pferdefuhrwerke, streunende Hunde und Schlaglöcher machten die Fahrt zu einer Tortur. Schilder mit Lobpreisungen des Conducators Ceausescu säumten die Strasse, am Wegesrand liessen verarmte Menschen ihre einzige Ziege oder Kuh auf kleinen Grünstreifen weiden. Angelangt in der Hauptstadt, waren schon Freunde zur Stelle, die in Kanistern den Treibstoff für die nachmitternächtliche Rückfahrt bereithielten.
Beim Konzert in Bukarest machte ich Bekanntschaft mit Johnny Raducanu, Jahrgang 1931. Der Jazzer mit feurigem Zigeunerblut spielte zunächst Kontrabass und wechselte dann zum Klavier über. Seiner zentralen Bedeutung entspricht es, dass er nach dem Umsturz zum ersten Präsidenten der Rumänischen Jazzföderation gewählt wurde. Hier darf ich einen ganz aktuellen Konzerthinweis anbringen: Johnny Raducanu tritt am morgigen Freitag und am Sonnabend in Bremen im ,,Studio auf den Höfen“ auf, und an den beiden gleichen Tagen, also am 12. und 13. Mai, wird rumänischer Jazz gleichfalls in der Hamburger Kampnagelfabrik geboten. Weitere Termine des reisenden Rumänien-Festivals sind der 21. und 22. Mai in Wuppertal und der 25. sowie 26. Mai in Hagen. Leider fand sich Harry Tavitian, aus welchen Gründen auch immer, nicht bereit, bei dieser Benefiz-Tour in eigener Sache mitzuwirken.
Zur akustischen Vorinformation soll Ihnen, liebe Hörer, eine Eigenkomposition von Johnny Raducanu dienen: ,,Amintiria“.
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Johnny Raducanu: Confesiuni 3
AMINTIRIA
comp Johnny Raducanu
Electrecord ST-EDE 02923
02.35
A-3
*
Johnny Raducanu, jetzt Präsident der rumänischen Jazzföderation und in diesen Tagen in Norddeutschland auf Tour, gab sich hier als Komponist und Pianist ganz konservativ und ,,cool“. Bissig wurde er, der schon in vielen westlichen Ländern konzertieren konnte, wenn die Sprache auf Ceausescu kam. Auch zu Lebzeiten des Diktators konnte er es sich leisten, im Jazz-Freundeskreis unverblümt seine Meinung zu sagen. Aber als einige seiner Künstler-Freunde Repressalien durch die Securitate erfuhren, bekam auch er es zunehmend mit der Existenz-Angst zu tun.
Johhny Raducanu bat ich 1985 um eine Einschätzung von Harry Tavitian:
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Johnny Raducanu Interview
(ENGLISCH)
02:38
Eigenaufnahme (38 cm/sec)
Wortzuspielband-2
darüber Übersetzung einblenden:
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,,Harry Tavitian ist einer der jungen Generation in diesem Lande. Er besitzt eine äusserst fantasievolle Kreativität, er ist talentiert und ein wahrhaftiger Jazz-Mann. Natürlich praktiziert er mehr eine aggressive Musik. Ich habe ihm schon viel geholfen, und ich glaube an diesen Jungen: eines Tages wird er das erreichen, was ihm im Herzen vorschwebt. Es ist für ihn nicht leicht, denn er ist ein Pionier in dieser Musikart. Er hat ein grosses Problem: er hat hierzulande keine kongeniale Partner. Er wird seinen Weg machen, er ist noch jung, er ist 32 Jahre alt.
Er ist ein netter Mensch, er ist ein Kämpfer, er organisiert, er bewegt viel im Clubleben, er ist voller Aktivität und Hilfsbereitschaft. Er hat eine gute Einstellung zum Jazz.
Es ist eigenartig, dass er einerseits moderne Musik wie Cecil Taylor spielt und dazu seine Spezialität, nämlich armenische Musik, mischt – andererseits singt er den Blues wie ein leibhaftiger Schwarzer. Das ergibt einen grossen Kontrast. Und das ist sehr gut. Er hat die optimale Stimme dazu. Mit dem Blues-Singen kann er viele Leute um den Finger wickeln. Bald wird er eine gute Kombination von Blues und Jazz zuwege bringen. Ich bin zufrieden mit Harry Tavitian.“
Inzwischen ist Harry Tavitian 37 Jahre alt, und er hat einen ständigen Duo- Partner, den Johnny Raducanu – ohne einen Namen zu nennen – als zu Tavitian nicht ebenbürtig einschätzt. Es handelt sich um Corneliu Stroe, Jahrgang 1959, der Schlagzeug spielt und sich als tiefer Blechbläser noch am Euphonium versucht. Stroe ist der zweite Eckpfeiler von ,,Creativ“. Hinter diesem Gruppennamen verbirgt sich ein musikalisches Konzept: eine Plattform für kreative Musik, stets offen für mit-improvisierende Gäste. Hören Sie jetzt bitte die Grundkonstellation von „Creativ“, also den Pianisten Harry Tavitian und den Perkussionisten Corneliu Stroe. Die so betitelte „Etude“ entstand am 10. Februar 1985 in Bukarest.
Harry Tavitian/Corneliu Stroe
Transilvanian Suite
Leo Records LR 132
ETUDE
ausbl.
05:00
A-1
comp Harry Tavitian
Alissa Publishing Co. , PRS
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Eine ,,Fusion“-Musik ganz besonderer Art praktizierten der Pianist Harry Tavitian und der Perkussionist Corneliu Stroe bei dieser ,,Etude“, einer Komposition von Harry Tavitian.
1986 sollte der inzwischen aus seinem hauptberuflichen Job als Bibliothekar gefeuerte Tavitian mit seiner variablen Gruppe ,,Creativ“ in Le Mans und in Stuttgart auftreten. Alles war mit der staatlichen Konzertagentur „ARIA“ vertraglich abgestimmt, als drei Tage vor dem fixierten Termin plötzlich ein Telegramm aus Bukarest eintraf mit der unglaubwürdigen Mitteilung, der Ensembleleiter sei erkrankt und die Tournee müsse ausfallen. In einem handvermittelten Telefongespräch fand ich nachts um zwei Uhr den ausgezeichneten Gesundheitszustand von Harry Tavitian bestätigt. Wir waren uns einig, dass ein derartig lügnerisches Vorgehen der Behörden eine Blamage für Rumänien sei und der Fauxpas sofort korrigiert werden müsse – und diese Worte waren in voller Absicht an die heimlichen Lauscher gerichtet, die grundsätzlich jedes Auslandstelefonat abhörten. Doch es blieb dabei: die rumänischen azzer erhielten keine Ausreisegenehmigung.
War es mehr Angst oder mehr Spott über Nicolae Ceausescu, genannt „Pig Nic“, was ich bei meinem zweiten Rumänien-Besuch im August 1988 verspürte? Erst recht für die Intellektuellen musste das Regime eines Wahnsinnigen unerträglich gewesen sein. Inzwischen war ein bei dem berühmten Badeort Mamaia gelegenes Dorf der „Systematisierung“ zum Opfer gefallen. Eine hochgebildete Musikerfamilie und deren Freunde aus Klausenburg hatten dort in einem Holzhaus regelmässig den Urlaub verbracht und mich mit meinen Jazz-Kollegen zu den Mahlzeiten eingeladen. Harry Tavitian selbst lebt in Constantas romantischer Altstadt und hatte stets die Angst im Nacken, dass Ceausescus Zerstörungswut diesen Teil der vormaligen Römersiedlung dahinraffen würde.
Kaum zu glauben, welcher musikalische Psycho-Terror ausgeübt wurde. Man vernimmt im Radio oder im Fernsehen Musik zwischen Marsch und Madrigal und bekam eine Lobeshymne auf den Despoten zugesetzt, ein Gloria auf Ceausescu:
*
Radio
GLORIE CEAUSESCU
00:35
Eigenaufnahme
Wortzuspielband-6
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Auch im einkanaligen Fernsehen, das täglich nur zwischen 20 und 22 Uhr ausgestrahlt wurde, blieb noch genügend Zeit, um in Wort und Bild den allgewaltigen Führer und dessen Frau Elena zu preisen: makabre Video-Clips in einer alt-stalinistischen Gesellschaftsordnung. Mit meinem kleinen Walkman habe ich mir auch dies dokumentiert:
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Fernsehen
CEAUSESCU-PROPAGANDA
00:22
Eigenaufnahme
Wortzuspielband-4
*
Das Anachronistische der Propaganda Ceausescus war, dass neben solch dümmlicher Agitation auch Jazz seinen Platz in den elektronischen und in den Print-Medien hatte. Jazz wurde also nicht als wirklich regimefeindlich angesehen. Aber mit dem Gewährenlassen von Pop und Jazz konnte man auch die Jugend beruhigen – und den internationalen Touristen eine heile Welt vorgaukeln. In einem mehrsprachigen Radiosendung für die Schwarzmeerküste wurde unser Jazzkonzert im Dramentheater Constantas wärmstens empfohlen:
Radio
Eigenaufnahme
EXCITING JAZZ…
00:14
Wortzuspielband-5
sofort ausblenden bei ,,Now the time has….“
*
Beteiligt an diesem Konzert waren Blues-Musiker vom Inneren des Landes und zwei Gäste aus der Bundesrepublik: der aus Bremen stammende Bassist Reinhart Hammerschmidt und ich. Reinhart Hammerschmidt hat die Liebe regelmässig in den Balkanstaat getrieben: mittlerweile ist er mit einer Rumänin verheiratet. Und er hat stets die Verbindung zu der isolierten Jazz-Szene dort aufrechterhalten.
Wenige Tage nach diesem Konzert stand das Festival von Costinesti auf dem Programm. Seit 1981 gibt es in diesem riesigen Ferien-Camp der Jungkommunisten regelmässig Jazz. Als Honorar gab es für die Musiker nur Logis und Verpflegung. Der Rundfunk zeichnete die Konzerte im dreitausend Besucher fassenden Freilufttheater auf und berichtete gar „live“ vom Ort der Handlung.
Keine Frage: Harry Tavitian ist in Costinesti und auch sonst in Rumänien der populärste Jazzmusiker des Landes. Ihm hört man auch geduldig und willig zu, wenn er weniger ohrenfreundlichen Free Jazz intoniert. Ein aufregendes Erlebnis für alle war, dass Tavitian wiederum zwei Freunde aus der Bundesrepublik in seine „Creativ“-Formation integrieren konnte.
Ein Mitarbeiter des Rundfunks brachte im Spätsommer 1988 das Kunststück fertig, privatwirtschaftlich vom Radiomitschnitt eine Schallplatte zu produzieren. Somit war dies die erste von Harry Tavitian in Rumänien erschienene LP und auch die erste Avantgarde-Jazz-Einspielung überhaupt.
Zum Abschluss der Sendung über Harry Tavitian den Mittelteil von unserem Auftritt in Costinesti. Das Projekt benannte der Bandleader „East-West Creativ Combinations“. Hier die vollständige Besetzung: Der Pianist Harry Tavitian spielt Flöten und Perkussionsinstrumente, Corneliu Stroe Schlagzeug, Reinhart Hammierschmidt Kontrabass und Hans Kumpf, der Autor dieser Sendung, Klarinette.
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Tavitian/Stroe/Hammerschmidt/Kumpf
EAST – WEST OREATIV COMBINATINS
einblenden
und ausbienden nach ca.
08:00
comp H. Tavitian/R. Hammerschmidt/H. Kumpf
Leader Jazz Rec. ST 7001 B- 1
Mskrpt
*
Abmoderation in Hamburg
Gesamtdauer: 55 Minuten
(Manuskript 2004 eingescannt, und grundsätzlich ß mit ss ersetzt)