Hugo Strasser zählt 86 Jahre. Gerne und oft kokettiert der Senior im Dreigestirn der Swing-Legenden Strasser/Kuhn/ Greger mit seinem Alter. In Wuppertal, so erzählt er beim Konzert anlässlich von „Bingen swingt 2008“, habe eine 13-Jährige ihn um zehn Autogrammkarten gebeten, weil sie diese gegen eine Karte von Tokio Hotel eintauschen könne. Das ist ungerecht, denn noch immer verfügt Strassers Klarinettenton über eine filigrane Wärme und Raffinesse, dass er selbst ein „Mooglow“ oder gar ein „Bei mir bist Du schön“ gefühlvoll, aber ohne Sentimentalität zum Klingen bringt. In Bingen stehen ihm „Strings only“ mit dem virtuosen Martin Weiss an der Gitarre und der Geige, dem Gitarristen Bernd Otto, dem Bassisten Paul G. Ulrich und dem Pianisten Max Greger jun. zur Seite.
Bei 35 Bands auf fünf Bühnen in der Stadt fällt dem Jazzfan die Wahl schwer. Glücklicherweise sind alle Konzert lang genug, um mindestens eine halbe Stunde zuhören zu können, bevor der Besucher seine Ohren andernorts für neue Klänge öffnet. Schließlich bietet das Festival am Rhein-Nahe-Dreieck Künstler vieler Stilrichtungen.
Wenn der Rock`n Roll als Bastard des Blues hinzu gezählt wird, dann steckt schon die Eröffnung am ersten der drei Tage das Feld zwischen dem Sinti-Jazz mit den Brüdern Mike und Moro Reinhardt und den Rockern von „Robbin B`“ ab. Auf einer dritten Bühne greift die Trägerin des Wormser Jazzpreises, die Pianistin Anke Helfrich, in die Tasten. Mit ihren sperrigen und verschleppten Rhythmen weckt sie Assoziationen an den genialen Thelonious Monk, liefert sich mit dem Überraschungsgast Torsten de Winkel an der Gitarre in einem Blues spannende Ruf-Antwort-Duelle.
Unterdessen mischt auf einer benachbarten Bühne in der Innenstadt Ro Gebhardts European Jazz-Trio mit dem rasant scattenden Sänger Burdette Becks das Publikum auf. Am späten Eröffnungsabend fällt die Wahl zwischen dem Trio des Pianisten Bob Degen mit dem Altsaxophonisten Emil Mangelsdorff und der hr-Big-Band mit ihrem Programm „The Music of Art Blakey`s Jazz Messengers“ schwer. Auf der einen Seite das filigrane Spiel des Quartetts, in dem die warmen und sangbaren Läufe Mangelsdorffs dominieren, auf der anderen Seite die satten Bläsersätze einer wuchtigen Bigband, die in Bingen mit dem Trompeter Brian Lynch und dessen stählern gleißendem High-Note-Spiel sowie dem soulinspirierten Saxophonisten Donald Harrison zwei Künstler aus Blakey`s Messenger-Truppe zu Gast hat.
Bei einem Mammutprogramm mit vielen Glanzlichtern, wie es Festivalchefin Ute Hangen trotz offensichtlicher Budgetbeschränkungen durch die Landesgartenschau präsentiert, ist jede Auswahl subjektiv. Sicher hätte noch die eine oder andere Band ebenfalls Aufmerksamkeit verdient. An einigen Künstlern kommt der Besucher allerdings nicht vorbei. Zu ihnen zählen die Sängerinnen Sylvia Vrethammar, die auch nach 40 Jahren Bühnenpräsenz noch über enorme Ausstrahlungskraft verfügt. Mit der stimmgewaltigen Wienerin Marianne Mendt und ihrem unverwechselbaren Hit „A Glockn“ zu Joe Zawinuls Komposition „Merci, merci“ kann sie zwar nicht ganz mithalten, überzeugt aber mit ihrem vorzüglich groovenden Quartett sowie zum Festivalschluss mit der BBC-Big-Band durch variable Ausdruckskraft und jazzgerechte Phrasierung.
Ebenso subjektiv mag die Einschätzung sein, dass die Entdeckung des Festivals ausgerechnet aus Bingen kommt. „Griot“ das Trio um den Multi-Instrumentalisten Gernot Blume und die Marimbaphon-Virtuosin Julie Spencer hat sich mit dem Saxophonisten Peter Eppstein dem Jazz genähert, ist mit seiner eigenständigen und reizvollen World–Music jedoch eher im Grenzbereich angesiedelt. Mit swingendem Neo-Bop auf hohem Niveau besticht die Thomas Bachmann-Group, brodelnde und kochende Latin-Stücke präsentiert der brasilianische Bassist Paulo Cardoso mit seiner Formation „Acervo“.
Zwei Rapper aus Bayern rocken am dritten Tag ihren Text „Schäm Dich“ zum satten Sound der Band „The Foobirds“ aus Kulmbach in den Saal des Binger Kongresszentrums. Die Jugendlichen hatten sich 2007 mit ausgefallenen Arrangements den Skoda-Jazzpreis erspielt. In einem Sonderprogramm des Festivals „Bingen swingt 2008“ bläst nach diesem Rap der Trompeten-Star Till Brönner sanft und dennoch strahlend seine Soli in der Miles-Davis-Komposition „Milestone“ vor dem dann klassischen Big-Band-Background seiner „Schützlinge“.
Brönner wie auch Jiggs Whigham, Klaus Graf, Sandy Patton, Thomas Siffling und Tom Gäbel loben das bewundernswerte Niveau des Jazz-Nachwuchses in Deutschland sowie das Förder-Engagement des veranstaltenden Automobilkonzerns, der in den Wettbewerb inzwischen auch die Deutsche Jazzföderation sowie den rheinland-pfälzische Landesmusikrat eingebunden hat. „Manchmal kehre ich in den Saal zurück, um mich zu überzeugen, dass da keine professionelle Big-Band spielt“ gesteht Brönner.
In der Tat überzeugen die Schüler in den seit 2002 jährlich ausgeschriebenen Wettbewerben die Jurys durch präzise Satzarbeit, kraftvolle Tutti sowie makellose Soli in komplexen klassischen und modernen Arrangements. Beim sechsstündigen Sonderkonzert dürfen die Siegerbands aus den Jahren 2002 bis 2007 zeigen, was sie in den Workshops mit ihren berühmten „Paten“ erarbeitet haben. Das Ergebnis beeindruckt neben dem begeisterten Publikum auch die Moderatoren Biolek und Drechsel, beide ausgewiesene und kompetente Jazzliebhaber. Professionellem Anspruch genügen beispielsweise die Sängerin Christina Hein aus der Big Band des Gymnasiums Berenbostel oder der Trompeter Sebastian Haas der Big Band „Coming Up „ des Gymnasiums Sankt Goarshausen.
Qualitätseinschränkungen sind dann höchstens im direkten Vergleich mit der Virtuosität der Instrumentalisten der Doppel-Bigband Peter Herbolzheimers zu registrieren, der sein weltweit einmaliges Symbiose-Projekt der internationalen „GreyHairConvention“ mit der Masterclass der besten jungen Jazz-Profis aus Europa dirigiert. Die 72-jährige Big Band-Ikone hat mit dieser Großformationen einen Lebenstraum realisiert. Er habe sich schon immer über die nicht nachvollziehbare Trennung zwischen Alt und Jung, Profession und Liebhaberei geärgert, sagt Herbolzheimer. Das Konzert mit Kompositionen wie „Milestone“, „My favorite things“, „All Blues“ oder „Lieblingsumarmer“ für das integrierte stimmlich virtuose Vokalquartett belegen, dass das Experiment gelungen ist, professionell spielende Ärzte, Rechtsanwälte Opernsänger, Psychologen, EDV-Programmierer und andere „reifere Grey-Hairs“ aus aller Welt mit handverlesenen jungen Jazzern aus Europa zusammenzuspannen.
Dass die renommiert BBC-Big-Band London unter der Leitung von Jiggs Whigham bei einem ihrer seltenen Gastspiele gemeinsam mit der Schwedin Sylvia Vrethammar in Bingen das Abschlusskonzert bestreitet, spricht für die Akzeptanz und den Ruf des Festivals, dessen Werbewirkung für die Stadt nicht hoch genug bewertet werden kann.