Vor genau 30 Jahren hat der Bassist Mario Pavone seine erste Platte als Leader veröffentlicht. Jetzt steht er mit seinen „Double Tenor Quintet“ auf der Bühne des Frankfurter Hofes in Mainz, hebt beim Soundcheck vor dem Konzert verzückt die Arme, während die beiden Tenorsaxophonisten Abraham Burton und Tony Malaby nach einer kurzen Uni-Sono-Einleitung in ihren ekstatischen Soli auseinanderdriften, in harten Stakkato-Läufen und überblasenen High-Notes das an sich melodische und swingende Thema zerfetzen, um es nach einer langen Reise doch wieder in der Zweistimmigkeit aufzugreifen. Dazu greift Mario Pavone mit auf dem Kontrabass ungewöhnlich rasenden Läufen in den tiefen Lagen Akkorde, die ins Disharmonische gleiten, und Peter Madsen hämmert Akkordfolgen in die Tasten des Flügels. Zwischen diesen Free-Explosionen finden sich Pavone und der zeitweise zu Romantizismen neigende Madsen in teils ruhigen, teils treibenden Duos, bringt der frühere Rapper Burton mit vordergründigen Lyrismen, vorübergehend Ruhe ins Spiel, um dann wiederum mit einem Ausbruch in explosiven Ton-Kaskaden sowie im Zwiegespräch mit dem Saxophon Malabys in die überblasene High-Note-Regionen aufzusteigen. Unter all dem liegt das verschachtelte polyrhythmische Geflecht des Drummers Daniel Humair, der selbst in den wuchtigen Passagen immer differenziert zu trommeln vermag. Er wirkt nicht laut und ist in diesen Crescendos dennoch immer pulsierend präsent. So klingt der „urban-sound“ der Großstadt.
Ganz anders das Duo des 73-jährigen Pianisten Misha Mengelberg und des bedeutend jüngeren Saxophonisten und Klarinettisten Frank Gratkowski. Verspielte Single-Note-Ketten und dynamisch steigende Akkordgriffe auf dem Piano stehen neben vibratoreichen, langen melodischen Linien auf dem Altsaxophon und knarrenden, knallenden Stakkati auf der Bassklarinette. Jazzpreisträger Gratkowski kostet die Möglichkeiten der Lauterzeugung vom Überblasen, Schmatzen und Rauschen bis zum grummelnden Naturton aus. Mengelberg lauscht diesen kreisenden Akkordfolgen auf den Holzblasinstrumenten, ganz in sich versunken. Er greift mit äußerster Sparsamkeit kontrastierend in die Tasten, beantwortet die vorgelegten Harmonien. In sensiblen Interaktionen bewegen sich die beiden Künstler einander umspielend, um sich dann im Ruf-Antwort-Spiel zu treffen. Suchend und tastend wirken die Melodiekürzel, verspielt und kinderliedhaft. Doch hinter den so simpel wirkenden Dialogen stecken komplexe Strukturen, die lediglich dank der Virtuosität so transparent wirken. Gratkowski hat in seinen Klangfärbungen mit den aufgerauten Tonfolgen einen eher pointillistischen, Mengelberg in seinen Tastenspielereien einen eher impressionistischen Ansatz. Hin und wieder allerdings scheinen die Linien der beiden Instrument eher nebeneinander her zu laufen, als dass sie miteinander kommunizieren.
Mit einem hypnotischen Klangtripp beschließen Nik Bärtsch und seine Gruppe Ronin das Akut-Festival des Mainzer Vereins Up-Art. Eine kleine Melodie erklingt zart im blauen Dunkel der Bühne. Glöckchen und Rasseln der Percussion illustrieren die kurzen Notenketten Bärtschs auf dem Piano. Extrem ruhige und fließende Passagen wechseln sich mit überfallartigen Dynamiksprüngen und Intensitätssteigerungen ab. Aus dem flächigen Ton- und Percussionsgespinst lösen sich die Phrasen der sonoren Kontrabassklarinette von Sha. Das Geflecht der Instrumental- und Percussions-Läufe des Pianisten Nik Bärtsch, des Saxophonisten und Klarinettisten Sha, des Bassisten Björn Meyer, des Percussionisten Andi Pupato und des Drummers Kaspar Rast verdichtet sich zu komplexen Strukturen, die trotz der vordergründig maschinenhaften Gleichförmigkeit einen treibenden und mitreißenden Groove entwickeln. In den Stücken von Ronin treffen Raffinesse und Disziplin aufeinander, ohne sich gegenseitig auszuschließen. Die musikalisch, verschlungenen Wege der Schweizer Band faszinieren durch ihre ordnende Kraft in der Kreativität, durch die Vereinbarkeit von Versenkung und Expressivität.