tag zwei / zukunft denken
eine pariser hippiekommune, ca. 1969. seltsame blasinstrumente auf der tonspur. erste musik des tages: das art ensemble auf chicago, in batiktücher eingehüllt, bewusstseinserweiternd eingeatmet, freie liebe, freie frauen.
in der kassenhalle läuft LES STANCES A SOPHIE (1970), auf kleiner leinwand, zum cappuchino. eine wilde frau lässt sich in einer bürgerlichen ehe einfangen, sorgt mit scharfem witz (dialoge: christiane rochefort) und subversiven handlungen für risse im patriarchat, aber das mitspielen nutzt nichts, sie muss natürlich gehen, um eine zukunft zu haben. immer dann, wenn eine andere welt im bürgerlichen dekor aufgehen soll, spielt das art ensemble auf frankreich-visum. „thème de yoyo“ läuft in einem nachtclub, die frauen boxen dabei die männer von der tanzfläche.
ein stockwerk drüber im house of jazz sitzen fünf nichtweiße menschen und denken laut über „afrofuturismus“ nach. moor mother, die neben dem unendlich understateten roscoe mitchell und der bescheidenen nicole mitchell die grüblerischste präsenz hat, erklärt, was das label für sie bedeutet: „I am african american and I care about my future.“ sie sei kein „community activist“, sondern dazu angehalten, aktiv zu werden, wenn es keine möglichkeiten gibt, und von anderen zu lernen, was sie nicht weiß. und da es vielen genauso ginge, entstünde halt daraus zwangsläufig „community“. nicole mitchell nickt und bedankt sich an dieser stelle bei roscoe mitchell. roscoe mitchell (78) sagt: „I am a student“. sich eine vergangenheit zu konstruieren, die auf der middle passage verloren ging, sich eine zukunft zu imaginieren, die nichts mit der zu tun hat, die weiße menschen eingerichtet haben, und sich an geteilten erfahrungen zu orientieren, nennt die wissenschaftlerin priscilla layne, die einen hervorragenden text zum thema ins jazzfestprogramm geschrieben hat, die drei grundpfeiler dessen, was sich als „afrofuturismus“ gerade in die debatten schreibt, auch jenseits von schwarzen superhelden im hollywoodkino. dazu gehört vielleicht auch eine zukunft für frauen, die nicht von männern eingerichtet wurde. roscoe mitchell, den man gerade noch im soundtrack der französischen frauenbewegung gehört hatte, denkt an seine tante, 40er jahre, chicago south side, die sehr viel gewusst habe, obwohl niemand dafür gesorgt habe, dass sie etwas lernt. nicole mitchell sagt: ich musste erst ein frauenensemble im aacm gründen, um meine eigenen kompositionen zu hören. und priscilla layne erinnert an die spezifisch weibliche prägung der schwarzen bewegungen in deutschland. moor mother findet es keine selbstverständlichkeit, dass roscoe mitchell zu ihren konzerten kommt. dessen nichte hat zu ihm gesagt: „oh, du spielst beim gleichen festival wie moor mother!“
moor mother eröffnet die konzerte im großen saal, auf den das house of jazz am zweiten tag wieder wesentlich zurückgebaut wurde. irreversible entanglements, unauflösbare verstrickungen, heißt das kollektiv, in dem sich fünf junge menschen ideen zuwerfen. elastischer, drängender, aber nicht angeberischer freejazz, in dem die skandierte lyrik von moor mother mit leichtem echo wie statements in den raum gehängt wird. gefunden haben sie sich an einem aktiontag gegen polizeitgewalt. sie insistieren, wiederholen, setzen immer wieder neu an, lösen nichts auf. schon wieder eine suite, weil es keinen grund zum aufhören gibt. we keep on doing the same things over and over again. auf der bühne wird es warm. schwitzend gehen die jungs ab, und roscoe mitchell erscheint. moor mothers dafür verfasster text hat wenige zeilen. er heißt „the black drop“. virtuos dekonstruiert sie die erzählung, skandiert sie die fragmente. mitchell arbeitet zirkularatmend über das motiv des „drops“, nur auf dem sopranino, ohne abzusetzen. tausend verschiedene wege, um einen ton anzusteuern und ihn fallen zu lassen. moor mothers ruf wird dabei nicht leiser. die situation löst sich nicht auf. drei insistierend lang gehaltenen töne von mitchell setzen ein vorläufiges ende und schicken das jazzfestpublikum in die pause. draußen sagt eine frau: „hape kerkeling“ und „hurz“.
jaimie branch nötigt das publikum zu nachholendem applaus. für das exploding star orchestra, für irreversible entaglements, für roscoe mitchell. „our music fights fascism“. skepsis. sie ist als rebellischer 15-jähriger teenager verkleidet, wechselt die baseballkappe, hat den flachmann im instrumentenkoffer, holt mit ihren drei jungs den spaß aus ihrem „fly or die“-programm raus, der nach wahrscheinlich 20 aufführungen noch zu holen ist. ihr trompetenton strahlt nach links oben in ein mikrofon. nicht in den himmel, in etwas jenseits des jazzfestivals. das album funktioniert live wunderbar. statt tomeka reid sitzt lester st. louis am cello (beide zusammen gestern nebeneinander bei mazurek), der sich elastisch mit jason ajemians bass verstrickt. die krawalltanzklammer wird von „chad motherfucking taylor“ (branch) befeuert und die trompeterin macht wenig mehr als ihre kampfansagen nach oben zu schicken. dazwischen aber der lange ambient-teil, in dem einem nochmal ganz neu die ohren aufgehen. zärtlichkeit & sophistication & ein trompetenton, der sich woanders hin träumt. der suite-charakter lässt wieder nur einen schlussapplaus zu. das berliner publikum steht dazu auf. und wird mit einer cowboy-weise belohnt, die jaimie branch ein letztes mal ganz aufregend in der coda wegrutscht. drop.
jetzt freuen wir uns alle auf das art ensemble, die alte spaßige musikantentruppe. und wundern uns nicht schlecht über den statuarischen aufbau. notenständer, stühle fürs streichquartett, laptop, dirigentenpult. bisschen unaufgeräumt sieht es nur ganz rechts aus, sehr viel percussion & little instruments. nach einer kollektiven verbeugung vor den verstorbenen bandmitgliedern folgt eine weitere suite. in der ersten hälfte dirigiert mitchell, während don moye auf krücken zwischen den trommeln wandert. christina wheeler singt merkwürdige dinge in eine technische apparatur, ein flow ist ausdrücklich nicht gewünscht. unangekündigt taucht moor mother auf, mit einem neuen text: „we are on the edge. of victory.“ als sie abgeht, verlässt mitchell die dirigentenposition, nimmt das sopransolo und spielt 20 minuten am stück, in die gesänge und über die wall of sound hinweg. keinerlei anbiederung, nirgends. ganz am ende, vorsichtig, ein blues-thema für hugh ragin. dann ein sanft auslaufendes wellen-motiv, in das mitchell lässig seine abmoderation integriert. war das die zukunft? der soundtrack für wakanda? man wird das nachhören müssen, ein aufnahmestudio in ann arbor macht es möglich.
chicago, kollektiv. mazurek hatte branch anmoderiert, mitchell das art ensemble. letzteres dauerte einigen wieder zu lang. als sie sagt, dass sie das konzert nicht länger verzögern wolle, spenden vier deppen szenenapplaus. ich sag dazu nichts mehr.
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