Fotos und Text: Klaus Mümpfer
Brasilianische Musik ist eine ganz eigene Welt, die vor allem den Samba um den Globus geschickt hat. Doch der unbezähmbare Karnevalsrhythmus ist nur ein Bruchteil der regionalen Vielfalt, zu der etwa auch der Choro als Vorläufer der Samba und die Trommelgruppen aus Bahia zählen. In dieses Latin-Universum hat sich der in Russland geborene und seit 22 Jahren in Köln lebende Simon Nabatov gewagt und versenkt.
Der Pianist ist ein Chamäleon. Seine Technik kennt offensichtlich ebenso wenig Grenzen wie seine Musikalität. Klassik, Romantik, Folklore, Free-Jazz, abenteuerliche Experimente im Feld der Avantgarde und sanfte Lyrismen im Third Stream – all diese Seiten seines Kennens und Könnens lässt der Pianist in ein Bekenntnis zur brasilianischen Musik einfließen. Einige tastende, gleichsam suchende Akkordgriffe leiten in das Thema von „Qualquer coisa“ des Sänger-Komponisten Caetano Velose ein. Ein Stück, in dem Nabatov wenig später flinkfingrige Triller und Notentrauben spielt, mit der Handfläche Cluster anschlägt oder zum Schluss auf dem Korpus des Flügels rhythmische Figuren klopft. Ein anderes Mal lässt Nabatov auf diese Weise die Saiten mit Flügel klingen, ohne dass er die Tasten anschlägt.
Faszinierend ist sein präzises „time“, obwohl seine beiden Hände manchmal zwei völlig verschiedene Rhythmen gleichzeitig zu greifen scheinen. Manchmal untermalt der Pianist sein percussives Spiel mit den Füßen oder beschließt die eigene Komposition „Itapoa“ in der Zugabe mit einen kleinen Step-Tanz, den er wiederum mit sparsamen Akkordeinwürfen krönt. Ein bekanntes Stück von Antonio Carlos Jobim kombiniert er mit Klassik und eruptiv freiem Jazz. In seinem „Itapoa“ verbindet Nabatov gleich mehrere Genres der brasilianischen Folklore-Vielfalt.
Es ist wohl „Nene“ von Ernesto Nazareth, der eine Vielzahl von brasilianische Tangos, Polkas, Walzer und Choros schrieb, in das Nabatov Marschrhythmen und europäische Salonmusik als melodische Erkennungspunkte zwischen den eruptiven Improvisationen hervorhebt. Zwischen verspielte Melodielinien schiebt er einen kurzen wilden Free-Lauf, kommt nach ungebundenen Ausflügen immer wieder aufs Thema zurück. Spannungsbögen baut der Pianist vielfach mit Ostinati. Extreme Dynamiksprünge, ständiger Wechsel von Lyrismen zu percussivem Power-Spiel kennzeichnen seine Interpretationen brasilianischer Musik fern jeglicher Samba-Seligkeit. Der Künstler kontrastiert Melodievariationen in den mittleren mit ostinaten Single-Note-Trauben in schrillen Diskantlagen. Dieser dialektische Kampf sei wohl Ausfluss seiner russischen Herkunft, sagt Nabatov, der mit leiser Stimme seine Stücke und deren Herkunft ansagt. Er erzählt von Salvador de Bahia, der Stadt mit der eigenständigen Trommelkunst, von den Hügeln und Tälern Rios sowie den sozialen Unterschieden, von dem Protest der Studenten und Musiker gegen die einstige Militärdiktatur und von Chico Barque, dessen Kompositionen zu Hymnen der Freiheitsbewegung wurden. Das Publikum dieses ersten Konzertes der neuen Konzertreihe „Begegnungen“ in der Verbandsgemeinde Nieder-Olm feierte Simon Nabatov frenetisch.