Musikalische Welten liegen zwischen „Free Piece“ und „Distant Hills“. Von den fernen Bergen erklingt eine getragene Melodie, assoziiert Naturklänge von säuselndem Wind und rauschenden Bächen, die Oboe näselt, aus den Saiten der Gitarre fließen romantisch verspielte Melodielinien, die Percussion raschelt mit Holzketten. Ins Gitarrenspiel fließen spanische Elemente ein. Die freie Improvisation hingegen verbindet in einer kraftvollen Collage elektronische Sounds mit Naturklängen, auf dem gestrichenen Bass wechseln sich schräg gestimmte Akkordläufe mit sanften melodiösen Fragmenten ab, die Oboe produziert fernöstliche Stimmungen. Die Metallflöte und kleine Tin-Whistles dialogisieren mit einen stakkatohaft gestrichenen Kontrabass, die Bassklarinette trötet überblasen dazwischen, die elektronischen Drum-Pads weben einen pulsierenden Rhythmusteppich, während E-Gitarre und Keyboards das aufkommende Soundgewitter anheizen. Das Quartett auf der Bühne kostet die Möglichkeiten des elektronischen und natürlichen Klangfarbenspektrums aus.
„Distant Hills“ und „Free Piece” sind die Gegenpole im Spektrum des kreativen Schaffens von „Oregon“, jener legendären Weltmusik-Gruppe, die in diesem Jahr ihr 35-jähriges Bestehen feiert und jetzt im Rahmen der Jazz-Fabrik-Konzerte auf der Hinterbühne des Rüsselsheimer Theaters die Besucher faszinierte.
„Free Piece“, von Oboist Paul McCandless als spontane Improvisation angekündigt, zeigt, wie gut sich Schlagzeuger und Percussionist Marc Walker in das Ursprungs-Trio von Oregon eingefügt. Von Gitarrist Ralph Towner stammen die meisten Kompositionen an diesem Abend, Bassist Glen Moore steuerte „Pepe Linque“ bei, ein kräftig stampfender Blues auf dem elektrischen Solidbody-Bass mit reizvollen harmonischen Variationen des Themas, einer ekstatischen Bassklarinette und groovenden Keyboards. Towners „Toledo“ kommt aus einer anderen Welt, deren Sounds McCandless mit dem hellen Klang des Sopraninos abrundet, während Towner auf der Gitarre die titeladäquaten iberischen Rhythmen und Harmonien auf der akustischen Gitarre zupft.
Musikalische Dialoge im Ruf-Antwort-Spiel kennzeichnen viele Kompositionen. In „June Bug“ sind es Gitarre und Bass, ein anderes Mal Piano und Schlagzeug. In „An Open Door” entwickelt sich aus ein paar hingetupften Single-Notes eine Melodie, die von einem kraftvoll geblasenen Sopransaxophon in den hohen Lagen weitergeführt und von einem „straight“ marschierenden Bass unterstützt wird. Towner wirft ein paar sparsame Piano-Akkorde ein, bevor sich die Komposition in einer sanften Unisono-Passage auflöst.
Dies ist die Musik, die der Zuhörer von der etwas jazziger gewordenen „Oregon“ erwartet. Ein paar bluesgetränkte Harmonien von Glen Moore auf dem 1715 (!) gebauten Kontrabass, die näselnden sowie gleichzeitig coolen und expressiven Klänge auf der Oboe, die lyrischen, balladesken Linien auf der Konzertgitarre Ralph Towners, der sein in klassischer Formstrenge erlerntes filigranes Saitenspiel auslebt. Hinzu kommt mit Marc Walker ein Drummer, der die Felle der Trommeln mit den Händen bearbeitet, ein ausgedehntes Drum-Solo mit dem Spiel auf den Becken beginnt und auf exotischen Instrumenten als Percussionist brilliert.
Oregon ist sich in den vergangenen dreieinhalb Jahrzehnten im Grundsatz treu geblieben, auch wenn nach dem Tod des unvergessenen Percussionisten Collin Walcott ein Neuanfang gesucht werden musste. Aber dies liegt inzwischen auch schon über 20 Jahre zurück. Geblieben ist die Überzeugung, aus dem Sound heraus zu improvisieren. Dass Überraschungen dabei ausbleiben, liegt nicht an mangelnder Kreativität, sondern an der inneren Logik der Kompositionen.