Der Free Jazz der sechziger Jahre feierte jetzt vergnügliche Urständ‘ in Esslingens Kultur- und Kommunikationszentrum „Dieselstraße“: bei immenser Intensität viele harmoniefreie Kollektivimprovisationen und auch differenzierte Geräuschaktionen. Hinzu verschmitzt Allerweltsmusik und rhythmisch Triviales. Da wurden im Marsch-Trott vom Publikum alle Viere durchgeklatscht – fast wie im volksdümmlichen Musikantenstadl, doch in Esslingens alternativem Domizil war man sich stets der Persiflage bewußt. „Quando Dormi“ hieß das aufgeweckte Stück, und dieses geriet zu einer variantenreichen Kakophonie mit Paukenschlag. Das italienische „Pino Minafra Sud Ensemble“ musizierte mit viel Humor.
Schlagwerker Vincenzo Mazzone bediente nicht nur „klassische“ Pauken, sondern auch das (gongähnliche) Tam-tam, welches er gerne mit einem Becken traktierte. Das konventionelle Drumset funktionierte er zuweilen zum bloßen Handarbeitsgerät um, wenn er mit den Fingern nuanciert Felle und Becken in Schwingungen versetzte. Ähnlich klangforschend ging Daniele Patumi am Kontrabaß, den er andererseits auch mächtig swingen lassen konnte, vor. Ihm war zumeist mehr „arco“ als „pizzicato“ zumute: gar nicht „belcanto“ strich er über die Saiten, die er obertonreich schnarren ließ. Auch Pianist Giorgio Occhipinti zeigte sich sehr von der zeitgenössischen Konzertmusik inspiriert und wagte noch kontrapunktisch einen Blick weiter zurück. Die Innereien des Flügels provozierten eine exotische Klangemanzipation.
Posaunist Lauro Rossi blies vorwiegend recht kantig, erinnerte jedoch mit dem dämpfenden Plunger-Einsatz und mit durch zusätzliches Singen bewirkten Interferenztönen an den deutschen Posaunenweltmeister Albert Mangelsdorff. Kraftvoll und gewitzt am Tenor- und Baritonsaxophon Carlo Actis Dato, der besonders gerne noch Musiktheater vollführt.
Im Mittelpunkt stand freilich Bandleader Pino Minafra, der in den letzten beiden Jahren beispielsweise bei den Festivals in Berlin, Nürnberg und Donaüschingen mit Banda-Musik oder dem „Italian Instabile Orchestra“ für Furore sorgte. Ein betörender Virtuose ist der 1951 in Ruvo di Puglia geborene Trompeter nicht so sehr. Doch als Instrumentalist, Dirigent und als Komponist schafft er großartige Spannungsbögen und intelligente Konturen. Neben wilden Legato-Läufen spielt er verträumte Melodien, die sich sanft an die konventionellen Akkorde schmiegen. Der postmoderne Stilpluralismus erlaubt auch hier die Kombination von Aufruhr und Entrücktheit. Eine ganz individülle Masche von Minafra ist jetzt das Megaphon. Er verzerrt dabei seine Trompeten- und Flügelhorntöne, singt und spricht als „Scatman“ hinein und inszeniert absichtlich pfiffige Rückkopplungen.
Die Minafra-Kompositionen geben sich in ihren Themenvorlagen gerne folkloristisch: spanisches Flamenco-Flair bei „A Margherita“ und „Rosso E Nero“, „black music“ bei „Au Fond Je Suis un Africain Du Nord“ sowie ein vom Klavier schicksalsmelodisch eingeleiteter „Tango“, der Federico Fellini gewidmet wurde. Teuflisch hatte der Set in der Dieselstraße mit „Exorcism“ begonnen, aber da wurde der anfangs hämmernde Dämon alsbald mit viel Tam-tam und Chorälen vertrieben…