Label Bleu (rough trade)
Das Erstaunlichste an Steve Colemans Musik waren zunächst die hoch komplexen, dennoch groovenden Rhythmen und die Kunst, zu diesen rhythmischen Geflechten mit solcher Leichtigkeit und Schlüssigkeit zu improvisieren. Mittlerweile enthält seine Musik immer wieder auch äußerst vielschichtige, sich ständig wandelnde harmonische Gewebe, die durch ein Zusammenspiel mehrerer Improvisatoren entstehen. Auf seiner neuesten CD „Weaving Symbolics“ ist seine Musik in vielfacher Hinsicht hoch komplex und kunstvoll „gewoben“. Sie schillert in großartiger Vielfalt und erreicht eine außerordentliche Klarheit.
Die CD beginnt mit Steve Colemans allererster Kunst der Gestaltung: mit seiner Kunst der Improvisation, die bereits in jungen Jahren wegen seines besonderen Geschicks hervorstach, in sich verschränkte, „drehende“ Melodie-Linien mit verblüffendem Bewegungsgefühl und großer Eleganz hervorzubringen. Die Solo-Improvisation des ersten Stückes der CD „Weaving Symbolics“ gibt einen ersten Eindruck davon, wie sehr diese Kunst nun ausgereift ist: Mit der Natürlichkeit eines Liedes und der Helligkeit und Wärme von Sonnenstrahlen entwickelt sich seine Improvisation, bis sie bei einer Melodie anlangt, die das Thema des Stückes bildet – eine einfache Melodie mit einer durchdringenden Wirkung, wie sich später in weiteren Versionen dieses Stückes mit dem Titel „Ritual“ zeigt. Dieses „Ritual“ taucht nämlich 5 Mal (jeweils mit anderer Besetzung) auf und teilt das gesamte (auf 2 CDs verteilte) Werk in 5 Abschnitte.
Eine weitere Komposition ist in 3 Versionen enthalten: „Triad Mutations“ – jede Version voller berauschender Lebensfreude, getragen von einem Sound, der an die sonnige Atmosphäre Brasiliens denken lässt, wo die Musik aufgenommen wurde. Gerade dieses Stück macht deutlich, wie sehr in Steve Colemans Musik Komplexität ein Ergebnis gesteigerter Lebendigkeit ist.
Bei 2 Titeln spielt Steve Coleman in einem ungewöhnlich traditionellen Jazz-Kontext: im Trio mit Jeff „Tain“ Watts, der als ausgezeichneter Schlagzeuger einer früheren Wynton-Marsalis-Band bekannt wurde. Diese Trio-Aufnahmen ergeben jedoch in keiner Weise einen Bruch, sondern repräsentieren eine der Verbindungen der Steve-Coleman-Musik zu verschiedenen Musik-Traditionen, die zum Teil auch weit außerhalb des Jazz liegen. In „Tehu Six“ sind Elemente des „freies“ Spiels zu hören, in „Gregorian“ europäische Einflüsse und in „Li Bai“ asiatische. All diese Verbindungen zu unterschiedlichen Stilen und Musik-Kulturen sind aber nur Facetten und Erweiterungen der stets unverkennbar eigenständigen Musik Steve Colemans.
Eine spezielle Art der Stimmung, die seit seinen frühen Aufnahmen immer wieder in einzelnen Stücken auftaucht, gibt dem Stück „Trigrams“ einen besonderen Reiz: ein gebremstes, entspanntes Dahin-Fließen in gedämpften Farben mit starkem Groove. – Noch langsamer fließt „Circle Weaving Thirteen“, in vielen einzelnen Strängen, die sich überschneiden, zeitweise vereinen, sich wieder teilen und insgesamt einen Strom aus teils ziemlich schrägen, spannungsvollen, aber auch wohltuenden Klängen bilden. In „Numerology“ ist das (primär improvisierte) Spiel mit einer großen Vielfalt von Harmonien noch extremer, oft voller Reibung, aber immer wieder auch (gerade durch den Kontrast) wohlklingend und durch eine meditative, sakrale Atmosphäre berührend.
Die CDs „Weaving Symbolics“ brauchen wohl häufiges Hören über längere Zeit, um den besonderen Reiz dieser Musik in ihren vielen Räumen und Winkeln zu entdecken. Diese Musik ist eben nicht einfach und es ist eine gewisse Toleranz gegenüber Schrägem erforderlich, um auch den Zauber der schwierigen Stücke zu entdecken. Z.B. beginnt „Tetragramm“ mit einem irritierenden Gesang (als würde er die verrückt gewordene Orphelia in „Hamlet“ darstellen), gleich darauf setzt jedoch ein massiver Groove ein und gibt den abgehobenen, ätherischen Klängen eine stabile Basis, über der Steve Coleman dann einen coolen Tanz am Saxofon hinlegt – bis das irritierende Thema zurückkommt, nun schon ein wenig vertrauter …
„Weaving Symbolics“ enthält überwiegend eine hochgradig abstrakte, komplexe Musik, die aber gleichzeitig immer wieder bestechend natürlich, stimmig und klar ist. Ihre Abstraktheit bedeutet nie Gefühlsarmut, sondern verstärkt vielmehr den Ausdruck eindringlicher Stimmungen. Allerdings sind das kaum Stimmungen, die man in einem erholungsbedürftigen Zustand aufsucht oder die als Hintergrund bei anderen Tätigkeiten angenehm wären. Es braucht eine geistige Verfassung, die Lust auf eine mitunter wirklich abenteuerliche Entdeckungsreise zulässt – auf eine Entdeckungsreise, die sich jenseits verwirrender Momente lohnen kann, denn hinter dem, was sie einem abverlangt, hält sie eine besondere Schönheit bereit. Eine Schönheit, die in Form von Rhythmen, Bewegungsgefühl, Sound, bezaubernden Strukturen und Verläufen … tatsächlich existiert – im Gegensatz zu manch anderer Musik, hinter deren Schwierigkeit solche Qualitäten nicht zu finden sind.
Beide CDs sind auf der Rückseite DVDs mit Video-Aufnahmen. Auf einer ist nach einem kurzen Gespräch zu sehen, wie Steve Coleman nur mit Schlagzeug-Begleitung über „Little Willie Leaps“ (Miles Davis) lang und intensiv improvisiert. Es wird die Verbindung zur Jazz-Tradition deutlich und ihn spielen zu sehen, bringt einem seine Improvisations-Weise näher. – Auf der anderen DVD spricht er über die Musik der „Weaving Symbolics“-CDs.
ZUR SYMBOLIK:
Die Gliederung der CDs in 5 Abschnitte und in 2er und 3er Gruppen ergeben die Zahlenverhältnisse des „Goldenen Schnitts“. Aus den Titeln der Stücke und den Erläuterungen Steve Colemans wird deutlich, dass diese Musik zu einem guten Teil von Zahlen-„Magie“, Astrologie, Esoterik usw. inspiriert ist. – Steve Coleman weist im Begleitheft der CD jedoch darauf hin, dass es nicht so etwas wie ein „Verstehen“ der musikalischen Symbolik gibt. Es sei in dieser Musik nichts Tiefer-Gehendes zu finden als das Erleben des Hörers selbst. Zum In-sich-Gehen wolle die Musik anregen. – Für einen Zugang zu dieser Musik ist eine Beschäftigung mit den Ideen, die Steve Coleman inspirieren, also genauso unwesentlich wie etwa eine Beschäftigung mit christlichen Lehren für einen Zugang zur Musik von Johann Sebastian Bach.
THEORETISCHE GEDANKEN ZUR SYMBOLIK:
Mathematik und Naturwissenschaften konstruieren gedankliche Regelwerke (Modelle), um die Natur zu erfassen, was aber immer nur ansatzweise gelingt. Denn unsere geistigen Möglichkeiten sind zu begrenzt. Die gedanklichen Modelle haben zwangsläufig immer die typischen Strukturen der menschlichen Art zu denken. Darüber kommt man nicht hinaus. Auf diese Weise spiegeln all die mathematischen und naturwissenschaftlichen Gedanken zugleich die menschliche Art des Denkens wider – und nicht nur die Art des Denken: der enorme Einsatz, der zu den Erkenntnissen geführt hat, stammt aus Faszination, also aus intensiven Gefühlen, mit denen all diese Ideen verbunden sind.
Schönheit ist ein wesentlicher Motor und das ergibt eine Verbindung zur Kunst. Ein Wissenschaftspublizist sagt: Mathematiker hätten offenbar ein besonderes Verständnis für die mathematischen Zeichen. „Wahrscheinlich entdecken sie darin Symbole. Und das Symbolische regt nicht nur ihren Verstand an, sondern ihr ganzes Wesen, ihr Gefühl … Kriterien für Schönheit in den Naturwissenschaften sind zum Beispiel Symmetrie oder Einfachheit. Einsteins E=mc2 ist allein dadurch ästhetisch, dass es nur fünf Symbole hat … Oder nehmen Sie die Doppelhelix-Struktur: unser Erbgut in Form einer symmetrischen Spirale! … Ich denke, dass man ohne Sinn für die Naturschönheit kein Naturforscher wird.“
Mit diesem wissenschaftlichen Streben scheint Steve Colemans Weg eng verwandt zu sein. Dass manches, was ihn inspiriert, als „irrational“ erscheint, sich also naturwissenschaftlich nicht bewährt, ist unwesentlich, denn es geht ja um Musik und in musikalischer Hinsicht bewährt sich sein Zugang zur „Natur“ sehr wohl. Vor allem, weil die Musik die „Natur“ des menschlichen Erlebens abbildet, noch überzeugender als es auch die Naturwissenschaften tun.