Schwebende Klänge bei der „Musik in St. Michael“
Ein Konzert der besonderen Art kreierte Kantor Kurt Enßle in der Michaelskirche: Eine ziemlich notenlose Komposition für drei improvisationsfreudige Akteure aus Anlass des von Christen, Juden und Muslimen gleichermaßen gefeierten Michaelisfestes am 29. September jeden Jahres.
Die nunmehr evangelische Kirche, die über Halls Großer Treppe thront, wurde einst dem Erzengel Michael geweiht. Das Michaelisfest war für den Kantor Kurt Enßle nun Grund genug, in dem ehrwürdigen Sakralbau noch anderer Engel – auch wenn diese nicht in der Bibel vorkommen – zu gedenken. „Dreizehn Engel“ nennt der Protestant seine Komposition, die fast ohne Noten auskommt.
1968 dichtete der esoterische Avantgardekomponist Karlheinz Stockhausen „Aus den sieben Tagen“, eine Sammlung, die eher Meditationsprozesse darstellt als greifbare musikalische Sachverhalte. Explizit von dessen Verbalpartituren ließ sich Enßle nach eigenem Bekunden inspirieren.
Bei einem derartigen Unternehmen benötigt man nicht bloße Interpreten, sondern selbstbewusste und schöpferische Akteure. Dazu holte der versierte Organist wieder seinen alten Freund Ekkehard Rössle (Sopransaxophon und Bassklarinette) nach Hall. Rössle gewann mit seiner an der Musikschule Stuttgart angesiedelten Combo „Jazztime“ 1979 den ersten baden-württembergischen Wettbewerb „Jugend jazzt“, 1994 wurde der swingende Holzbläser mit dem Landesjazzpreis ausgezeichnet. Und auch die aus Michelbach an der Bilz stammende Johanna Boyny ist von Kindesbeinen an mit der Musik bestens vertraut. Inzwischen studierte die begabte Vokalistin an der Dinkelsbühler Berufsfachschule und singt im Würzburger Monteverdi-Chor.
Mit glockenhellem Sopran ließ sie sphärenhaft reinlichste „Engelsklänge“ durch das Gotteshaus schweben. Ihre Stimme hatte sie bis auf eine Ausnahme wortlos – also quasi instrumental – einzusetzen. Wenn Kurt Enßle auf der wuchtigen Pfeifenorgel hohe Register zog und feine Cluster-Schichtungen „ertastete“, so hatten diese Dissonanzen nichts Beängstigendes oder Nervendes an sich. Ekkehard Rössle ist ohnehin ein ruhiger Typ; er blies auf dem Sopransax filigran meist in den höchsten Tönen, ohne seine Jazz-Herkunft verleugnen zu müssen. Auf den Emporen, im Altarareal und im Kirchenschiff erzeugten die beiden mobilen Akteure – wie einst die Protagonisten im Markusdom zu Venedig. Musik (mit viel Nachhall) im (steinernen) Raum. Mehr als nur Quadrophonie live.
Allenthalben zarte Sounds mit signifikanten Halbtonmotiven beim Eingangssatz „Engelsklang“, der ebenfalls etwa dreiminütige 2. Satz war betitelt mit „Gelber Engel“. Da tauchte immer wieder ein abwärts geführtes Quart-Motiv auf – aber nicht etwa die Tonfolge A-D-A-C…
Außerdem charakterisierte Kurt Enßle noch einen weißen, roten und grünen Engel – nicht jedoch einen blauen (vermutlich wollte er Professor Unrath und Marlene Dietrich nicht in die Quere kommen…). Aber der „Schutzengel“ und der Drachentöter „St. Michael“ wurden eigens musikalisch abgehandelt. Beim „Todesengel“ griff Rössle zur Bassklarinette und entlockte dieser vorsichtig geräuschhafte Impulsklänge, jazzte auch mal grazil, während Enßle bei diesem Duo auf der Orgel tiefes Windbrausen entfachte.
Mit „Engelsharmonie“ endete der unorthodoxe Konzertabend im Kirchenraum. In aller Stille ging die stark beeindruckte Zuhörerschaft auseinander.