STUTTGART. Schon vor seiner Deutschlandtournee gab es mal wieder Presserummel um Chick Corea. Die Terroranschläge am 11. September müsse man „mit Musik aufarbeiten“. ließ er in einem Presseagentur-Interview verlauten. Er wolle nach den ersten Depressionen „weiter spielen, um die Menschen zu bewegen“. Auch in Stuttgart bleibt der mittlerweile 60-Jährige ein gern gesehener Gast, obwohl er als prominentes Scientologen-Mitglied 1990 nicht bei der mit öffentlichen Geldern gesponserten Leichtathletik-Weltmeisterschaft im kulturellen Rahmenprogramm auftreten durfte. Immerhin konnte vor geraumer Zeit – trotz aller Ängste vor der mysteriösen Hubbard-Organisation – das baden-württembergische Jugendjazzorchester sogar in den politisch-heiligen Hallen des Landtags den Corea-Welthit „Spain“ intonieren. Und nun kooperiert der US-Amerikaner noch mit einem fidelen Künstler aus Castros Kuba….
Im Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle präsentierte sich Chick Corea zunächst einträchtig mit seinem Kollegen Gonzalo Rubalcaba. Man kennt und schätzt den am 27. Mai 1963 in Havanna geborenen Pianisten als einen überaus wendigen Virtuosen, der mit seiner stupenden Technik stets Erstaunen auszulösen vermag. Wie etliche andere Pianisten (man denke nur an den Miles-Davis-Kompagnon Herbie Hancock) hat auch Chick Corea einst eine ausgiebige elektronifizierte Fusion-Phase hinter sich und erfreut sich nunmehr am großen Flügel an der reinen Akustik. Immer wieder begeisterte Corea mit seinem „Acoustic Trio“ samt Kontrabass und Schlagzeug. Mit Herbie Hancock und dem Vibrafonisten Gary Burton ging er attraktive Duo-Verbindungen ein. Nun also die Zusammenarbeit mit Rubalcaba.
Vierhändig an zwei Flügeln eingangs ein Tango, den Chick Corea seiner 91-jährigen Mutter widmete (eine Rumba für den Vater Armando und seine „Children Songs“ komplettierten an diesem Konzertabend den familiären Themen-Rahmen). Nicht scharfkantig, sondern eher weich im Timbre und moderat im Tempo schritt dieser argentinische Tanz einher. Elastisch und agogisch gingen beide Pianisten mit den Metren um – im Team mit Bass und Schlagzeug wäre eine derartige Musizierweise „quasi una fantasia“ schlecht möglich gewesen. Im kommunikativen Doppel schufen Chick Corea und Gonzalo Rubalcaba ein gemeinsames Produkt, also keine Spur von einer hitzigen „piano battle“. Die relaxten Virtuosen ergingen sich in zärtliche Lyrismen.
Mit beindruckender Subtilität absolvierte Rubalcaba sodann seinen Solo-Part. Bereits bei seiner ersten Ballade schien J.S. Bach durchzuschimmern, und gerne praktizierte der Kubaner kontrapunktisch verknüpfte Linienführungen. Die rasantesten Läufe, meist mehr piano als forte, ließ er in selbstverständlicher Leichtigkeit dahinperlen . Schließlich streifte auch Gonzalo Rubalcaba die konventionelle Funktionsharmonik und kreierte eine Musik fernab aller orthodoxen Genre-Grenzen. Der Jazz in seinem traditionellen Sinn musste hierbei verblassen.
Mehr Blues-Feeling brachte nach der Pause Chick Corea in seinen solistischen Improvisationen ein. Mit dem doch recht frei gestalteten Standard „Round Midnight“ erwies der arrivierte Miles-Davis-Alumnus dem verqueren Thelonious Monk seine Reverenz, mit „Yellow Nimbus“ ehrte er den Flamenco-Gitarristen Paco de Lucia. Zu Noten und zur Lesebrille griff der arrivierte Jazzer, als er zwei friedfertige Préludes des russischen Komponisten Aleksandr Nikolajewitsch Skrjabin (1871 – 1915) interpretierte. Allenthalben im nur zur Hälfte gefüllten Beethovensaal eine heile Musikwelt, wo doch genau zur gleichen Zeit die ersten Raketen und Bomben in Afghanistan Krieg machten.