Das „Lucerne Jazz Orchestra“ spielt hinter einem Gazevorhang, vor dem die Tänzerinnen Ursula Nill und Romy Schwarzer sowie ihre Truppe aus zehn Rüsselsheimer jungen Erwachsenen kriechen, schlängeln, winden, schreiten, springen und tanzen. Die Bühnenszenerie ist bewusst dem Titel der Auftragskomposition des Klarinettisten und Elektronik-Komponisten Oliver Leicht angepasst: „Movements to hear & see“. Das Publikum im großen Saal des Rüsselsheimer Theaters soll die Musiker unter der Leitung von David Gottschreiber hören und die Tänzer sehen.
2011 hatte Oliver Leicht die Musik für Jazzorchester, Elektronik und Tanz komponiert und mit dem Lucerne Jazz-Orchestra im Luzern mit nur zwei Tänzerinnen als Auftragsarbeit der Schweizer Gastgeber realisiert. Deswegen freut sich nun der „heimgekehrte“ Groß-Gerauer Komponist über die Deutschland-Premiere: „Das Stück wird zum ersten Mal komplett aufgeführt.“
Im Dunkel der Bühne erklingt orchestraler Sound aus dem sich die Klarinette Leichts mit elektronischer Verfremdung, Hall und Loops herausschält. Der Vorhang öffnet sich, auf dem Boden verharren die Tänzerinnen und Tänzer marionettenhaft in Posen. Schattengleich schreiten Personen zwischen ihnen von links nach rechts und verschwinden im Kunst-Nebel. Schließlich erwacht die Menschengruppe zum Leben, reckt und verknäult sich, springt und tanzt durcheinander, während im Hintergrund der großorchestrale Klang der Bigband mit pulsierenden Rhythmen und flächigen Sounds der Partitur folgt. Sinfonische Passagen stehen neben elektronischen Soundexperimenten. Bassist Lukas Traxel improvisiert in einer ausgedehnten variantenreichen Linie, Pianist Luzius Schuler folgt in seinem Solo mit Blockakkordschichtungen und Singlenote-Ketten. Die Bläser fügen sich in flirrende Klangbilder ein. Zwischendurch übernimmt einer der fünf Saxophonisten auf dem Tenor eine ekstatische Führungsstimme, während die Posaunen und Trompeten das Volumen der Bigband auskosten. Leicht beugt sich immer wieder über seinen Laptop oder Synthesizer und steuert die flächigen Collagen des Orchesterklanges.
Die fünf „Movements“ vereinen Musik und Tanz durch Improvisation, wobei Leicht nicht nur als Komponist, sondern auch als Solist auf der Klarinette und Gestalter elektronischer Klanglandschaften beeindruckt. Die beiden Schweizer Tänzerinnen mussten ursprünglich keiner konkreten Anweisung folgen, sondern durften frei zur Musik agieren.
Es ist bewundernswert, was sie in nur zwei Workshops die Rüsselsheimer Partner lehrten und sie den Stimmungen menschlicher Gefühle wie Nähe, Entfremdung, Einsamkeit, Hoffnung, Hass, Liebe und Glück nahebrachten. Gewiss, bei dem “Solo“ von Nill und Schwarzer ist die Professionalität zu sehen, doch einfühlsam und nahezu souverän fügen sich die jungen Leute, die zuvor dem Vernehmen nach nie mit dem Ausdruckstanz in Berührung gekommen waren, ein.
Zum Finale nach 90 Minuten bläst allein Oliver Leicht hinter dem Vorhang seine Klarinettenimprovisationen eingebettet in die Elektronik-Klanglandschaften, während vor dem Vorhang ein einzelnes Paar einsam und liebevoll umschlungen tanzt.
Das Publikum feiert das eindrucksvolle und außergewöhnliche Bühnen-Erlebnis mit dem virtuosen Luzerner Jazzorchester, der faszinierenden Choreografie sowie der deutlichen Aufwertung des Tanzanteils enthusiastisch.