Ein Russe schafft es ins Guinness-Buch der Rekorde
MOSKAU. Er leitet seit 70 Jahren ununterbrochen eine Big Band – und ist keineswegs ein Amerikaner: Oleg Lundstrem, geboren am 2. April 1916 auf dem asiatischen Kontinent in der Stadt Chita. Ein kurioses Leben, eine interessante Story.
Aufgewachsen ist Oleg Lundstrem in der Mandschurei, wo sein Vater bei der Sowjetisch-Chinesischen Eisenbahngesellschaft tätig war. Noch als Teenager im geschniegelten Pomaden-Look gründete der Pianist im Jahre 1934 ein Jazzorchester. Freilich eben nicht auf dem Territorium der UdSSR – in China war der Bandchef samt Instrumentalisten zu Hause.
Die „russische Kolonie“ konnte dort ein Von Stalin unbedrängtes Leben führen. Erst 1948 kamen Lundstrem und seine Mannen in die Sowjetunion. Zum Glück wurden sie nach Kazan, in die tatarische Hauptstadt, „verbannt“ – weit weg vom strengstens kontrollierten Moskau. Die offizielle Anerkennung erfuhr Oleg Lundstrem erst kurz vor den Weltjugendfestspielen 1957, die ja eine große kulturelle Öffnung Russlands darstellten.
Mittlerweile gilt Oleg Lundstrem als der Grandseigneur des russischen Jazz. Bei nationalen Umfragen unter Fans und Kritikern landete seine Big Band stets auf dem ersten Platz. Sein Markenzeichen ist – schon seit den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts – der lange Dirigierstab, mit dem er sein Orchester wie ein galanter Zirkusdirektor steuert.
Den fließend Englisch parlierenden Band-Boss traf ich erstmals 1990, als im Moskauer Estradentheater das 1. Internationale Jazzfestival durchgeführt wurde. Mich interessierte zunächst, wie er zu alten Zeiten in Fernost auf den Jazz gestoßen ist. „Mit 16 machte ich den Schulabschluss, und natürlich fingen wir an zu tanzen“, erinnerte sich Lundstrem, „jeder lernte Foxtrott zu dieser Zeit“. Vergnügt und rhetorisch gewitzt fügte er hinzu: „Was war das für eine Musik? Jazz! Aber ich schenkte der Musik seinerzeit nicht so viel Beachtung.“
Bereitwillig gab Oleg Lundstrem bei einem Gespräch hinter der Bühne im Haus an der Moskwa ausführlich weitere Auskunft: „Zufällig kaufte ich mir eine Platte von einem mir damals absolut unbekannten Bandleader. Als ich diese hörte, war ich total begeistert. Es handelte sich um Duke Ellington And His Orchestra und den Titel ‚Dear Old Stockholm’. Da wurde mir klar, dass Jazz zu ernsthaft ist, als dass man ihn nur zum Tanzen gebrauchen könnte.“
Mühevoll musste Lundstrem die Melodien, Rhythmen und Harmonien der amerikanischen Vorbilder transkribieren: „Natürlich besaß damals kein Mensch gedruckte Noten“, erläuterte er, „ich schrieb die Musik zunächst nach Gehör ab. Anschließend, als ich genug Erfahrung hatte, begann ich auf entsprechende Weise meine eigenen Arrangements zu schreiben. Später fing ich mit dem Komponieren, beispielsweise eine auf Tataren-Folklore basierende Sinfonie“.
In die USA flog der russische Meister-Swinger erstmals im Jahre 1991, als er mit seinem Ensemble zu einem Jazzpädagogenkongress eingeladen wurde. Zuvor hatten zwei Saxofonisten, die in seiner Band spielten, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten etliche Lorbeeren sammeln und Kollegenrespekt erheischen können: Igor Butman spielte lange Zeit in der Gruppe von Grover Washington, und Alexey Zubov ging mit dem Vibrafonisten Gary Burton ins Studio.
Inzwischen kehrte Oleg Lundstrem auch wiederholt zu den Ausgangsstätten seiner erfolgreichen Karriere zurück. Auf seiner Internetseite (www.lundstrem-jazz.ru) präsentiert er sich stolz mit einem Foto, das ihn zusammen mit den Präsidenten Bill Clinton und Vladimir Putin zeigt – und listet die neuesten Konzertdaten auf. So spielte er beispielsweise Anfang Juni im lettischen Riga bei den „Moskauer Tagen“. Außerdem kann man auf dieser in russischer und englischer Sprache aufgemachten Homepage gratis einige Hörbeispiele herunterladen, Musiktitel in voller Länge
Als mich 1990 Lundstrem, damals 74, herzlichst zu den Feierlichkeiten zum 60jährigen Bestehen seiner Big Band im Jahre 1974 einlud, dachte ich, dass der alte Herr hinsichtlich seiner Lebenserwartung doch etwas zu optimistisch in die Zukunft blicken könnte. Jetzt wurde ich angenehm überrascht. Das Kultur-Fernsehen „arte“ zeigte jüngst eine Stunde lang einen vergnüglichen und schelmischen Lundstrem, der zwar nun am Stock geht, aber immer noch fetzige Swing-Musik produziert. Beste Aussichten, dass er 2006 fröhlich seinen 90. Geburtstag feiert und ihm sein dann seit 72 Jahren existierendes Jazzorchester ein jubilierendes Ständchen entbietet. Spätestens zu diesem Zeitpunkt ist wieder eine Aktualisierung im Guinness-Buch der Rekorde fällig.