Alle Photos auf dieser Seite: Hans Kumpf
Der Tango ist nicht nur zum Tanzen und zum Singen da, auch zum konzentrierten Zuhören. Das kammermusikalisch noble Konzert mit dem Trio Saluzzi/Lechner/Saluzzi in der Haller Hospitalkirche geriet im wahrsten Sinne des Wortes zu einem unvergesslichen Schlüsselerlebnis.
Schwäbisch Hall. Beim vierten Stück passiert es. Solistisch beginnt Dino Saluzzi auf dem Bandoneon relativ leise und ruhig mit einer feierlich gestimmten Introduktion: Agogisch, choralhaft und irgendwie sogar weihnachtlich. Da fällt im hinteren Saalbereich ein Schlüsselbund zu Boden. Der Argentinier unterbricht sein Spiel und murrt erzürnt in radebrechendem Englisch: „That’s music. I don’t want to play. Play you!“ Die Wut über das – aus der Kontrolle – verlorene Metall führt zum vorläufigen Konzertabbruch (und nicht etwa zu einer Komposition wie bei Beethoven). So gibt es nach einer halbstündigen Spielzeit eine dann 25 Minuten währende Zwangspause.
Von dem Pianisten Keith Jarrett ist man ja derlei Empfindlichkeiten ja gewöhnt. Räuspern und Husten empfindet der amerikanische Jazzer als persönlichen Angriff. Auch Dino Saluzzi ist bei Manfred Eichers ECM-Label unter Vertrag. Bislang war der mittlerweile 76jährige Virtuose nicht wegen Mimosenhaftigkeit gefürchtet, jazzte er doch als vormaliger Wahl-Waiblinger ganz relaxt immer wieder mit europäischen Koryphäen wie Wolfgang Dauner und George Gruntz zusammen.
Die Zeit heilt offensichtlich auch Musikerwunden. So kam Saluzzi wieder zurück auf die Bühne. Offensichtlich war er über das eigene Verhalten selbst erschrocken und ihm die Sache doch peinlich. Dino Saluzzis häufigste Worte: „Sorry!“ und „Thank you!“. Nun konnte er fortfahren mit seinem höchst artifiziellen Tango in der Nachfolge des weltweit geachteten Bandoneon-Meisters Astor Piazzolla (1921-1992).
Um 1848 entwickelte in Krefeld Heinrich Band aus der englischen Concertina das Bandoneon. Gegenüber der Ziehharmonika besitzt dieses Instrument keine fertigen Bassakkorde, seine Bassknöpfe erzeugen jeweils nur einen Ton. Durch Einwanderer kam das Bandoneon nach Argentinien, wo es zum Volksinstrument wurde und den Einzug ins Tango-Orchester hielt. Das diatonisch (wechseltönig) gebaute Bandoneon lässt im Zudruck und Aufdruck beim Bedienen desselben Knopfs zwei verschiedene Töne erklingen. Die Schwierigkeiten des Bandoneons bestehen zudem noch darin, dass die Zungen – wie bei der Pfeifenorgel – eine gewisse Zeit brauchen, bis sie voll schwingen, und dass die Knöpfe störend klappern können; schließlich gibt es in der Phase zwischen Auf- und Zudruck zwangsläufig einen mehr oder weniger starken Bruch im kontinuierlichen musikalischen Ablauf. Aber Dino Saluzzi vermag diese technischen Handicaps zu überwinden.
In seiner ausdrucksstarken Mimik war abzulesen, wie intensiv er die Musik empfand. Strenge Sorgenfalten als auch breites Lachen über die ganze Zahnbreite hinweg und ein flehentlicher Blick nach oben – zu den himmlischen Barockengeln und Aposteln der historischen Hospitalkirche. So viele Notenblätter wie jetzt gab es noch nie bei einem von Jazzclub und Kulturbüro gemeinsam veranstalteten Konzert (als dritter Partner brachte sich diesmal Radio StHörfunk ein). Dino Saluzzi hat seine Kompositionen und Arrangements akribisch ausgeklügelt – viele Tempo-, Takt- und Stimmungswechsel. Neben akzentuiert rhythmischen Passagen mit klaren Tango-Bezügen auch mal ein rund laufender Dreivierteltakt („Elvals de nosotros“) und Bezüge zu dem von Paul Simon und Art Garfunkel popularisierten Lied „El Condor Pasa“.
Dino Saluzzis jüngerer Bruder Felix, genannt Cuchara, blies mehr klassisch rein als jazzig ausbordend Klarinette und Saxophon. Auf dem Tenor erinnerte er zuweilen in eleganter Kühle an Stan Getz. Die musikstilistisch äußerst vielseitig interessierte und bewanderte Anja Lechner praktizierte auf ihrem Cello ein ausgedehntes Vibrato. Und beide streuten immer wieder eigene Improvisationen ein, die freilich eng den notierten Vorlagen verhaftet waren.
Insgesamt sehr subtile Kammermusik als frei machender Jazz. Aber ein ganz individuelles Konglomerat auf jeden Fall. Ein Konzertabend, der den zahlreich erschienen Besuchern lange im Gedächtnis bleiben wird – nicht nur wegen des besonderen Schlüssel-Erlebnisses.