Wikipedia vermerkt: Airto Guimorvan Moreira (* 5. August 1941 in Itaiopolis, Brasilien) ist ein brasilianischer Perkussionist, der weltweit als Jazzmusiker bekannt wurde. Sein Verdienst ist, dass im Jahre 1972 die renommierte Musik-Zeitschrift Down Beat die neue Rubrik Perkussion einführte. Sie setzte sich international als Bezeichnung für diesen damals stark von Moreira geprägten Einsatz kleinerer Schlaginstrumente durch.
Airto Moreira 1983 im Interview mit Hans Kumpf:
Sound und Rhythmus sind gleich wichtig
„In Brasilien hast Du zunächst mit Hermeto Pascoal zusammengespielt. Was konntest Du von ihm lernen? Er betreibt gerne Klangforschung und sagte dazu einmal, daß er als kleiner Junge im Wald verschiedene Hölzer aufeinanderschlug, um neue Sounds zu entdecken . . .“
„Wir lernten eigentlich gemeinsam. Als ich Hermeto Pascoal traf, spielte er weder Klavier oder Flöte, sondern nur Akkordeon. Und ich spielte Schlagzeug, etwas Kontrabaß und ich sang. Wir gingen schrittweise voran, entwickelten neuartige Sounds. Er kommt aus einem kleinen Dorf im Norden Brasiliens, ich stamme von einem kleinen Dorf im Süden. Wir lernten dann gemeinsam, Musik zu machen. Ich brachte ihm viele Rhythmen bei, und von ihm erfuhr ich Harmonik und schöne Melodien.“
„Pascoal ist aber in Brasilien eine exponierte Persönlichkeit, weil er nicht nur Volksmusik betreibt, sondern auch nach neuen Klängen Ausschau hält. Hatte er genügend Publikum für diese ungewohnte Musik?“
„Ja, doch. Unsere Gruppe nannte sich ,Quarteto Novo‘, und die Leute haben unsere Musik immer gemocht, obgleich sie sehr modern war. Unsere Zuhörer lachten, sie liebten die Musik, nur für das Fernsehen waren wir nicht kommerziell genug.“
„Später kamst Du in die USA und hast mit Miles Davis zusammengearbeitet. Ich glaube, Miles Davis ist gegenüber Pascoal eine grundverschiedene Persönlichkeit, weil Davis musikalisch autoritär ist. Sagte er Dir immer, was Du zu tun hattest oder konntest Du frei entscheiden?“
„Miles Davis ist kein autoritärer Typ …“
„Ich konnte aber zuletzt bei einem Konzert im April 1982 selbst beobachten, wie er seinen Musikern immer dirigistische Anweisungen gab!“
„Das war noch nicht so vor zehn Jahren, als ich mit Miles Davis zusammen spielte. Wenn ein Musiker gut ist und weiß, wie und was man spielen muß, sagt Miles Davis nie etwas. Er bläst und ist glücklich. Zu jener Zeit gab er uns keine Anweisungen. Wenn er ein Solo bringen wollte, kam er vor die Band, schaute und begann damit. Wir – Jack DeJohnette, David Holland, Wayne Shorter, Chick Corea und ich – wussten, was Miles wollte. Es kann sein, dass er heute autoritär auftritt, weil er junge Musiker hat. Seinerzeit sprachen wir überhaupt nicht über die Musik. Er sagte mir beispielsweise: Spiele nicht so viel! Oder: Höre zu und spiele dann! Er befahl mir nie, genau so oder so zu spielen – mit dem Tambourin oder der Quicca. Hermeto Pascoal ist da eher ein musikalischer Direktor als Miles, er übt mit seinen Mannen jeden Tag in seinem Haus. Das war bei ihm wenigstens vor zwanzig Jahren so, und vor zehn Jahren bei Miles Davis. Aber wir sprechen über die Vergangenheit …“
„Gegenwärtig bist Du eine anerkannte Figur auf der Jazzszene und wurdest in den vergangenen Jahren bei vielen immer wieder zum besten Perkussionisten gewählt. Fühlst Du Dich eher als Jazzmusiker oder als einer, der brasilianisch beeinflusste Musik macht?“
„Ich bin ein Welt-Musiker. Ich spiele für die Leute, und ich spiele, was ich fühle, Ich spiele nicht mehr die ‚Wurzeln‘- wie Brasilianisches oder Jazz. Ich spiele sozusagen ,Airto-Music`, d. h. ich habe einen bestimmten Stil entwickelt. Ich kann solistisch auftreten, mit einer Gruppe, kann Schallplattenaufnahmen machen. Es kommt immer auf die Situation an. Ich kann alle Arten von Musik spielen. Wem ich mit brasilianischen Musikern zusammenarbeite, bin ich Brasilianer. Wenn ich mit Jazzern zu tun habe, fühle ich mich als Jazzmusiker.“
„Welche typischen Sounds und Rhythmen der brasilianischen Musik hast Du in den Jazz eingebracht? Ich weiß von einigen Instrumenten . . .“
„Es waren weniger Rhythmen oder Sounds als das Feeling. Ich lernte da Feeling von der Freiheit kennen, die ein Musiker haben kann. Ich habe die Freiheit, überall Percussion zu spielen, nicht nur im Jazz. Ich bin kein Fachidiot irgendwelcher Rhythmen oder Instrumente. Ich höre auf die Musik, und dann spiele ich.`
„Du sagst, dass Du die Musik hörst und, danach Deine Percussion einsetzt. Ein Bläser hat seine Finger immer am Instrument und seinen Mund am Mundstück – er kann unmittelbar reagieren; aber Du musst das jeweils gewünschte Instrument vom Tisch wegnehmen, um es zum Klingen zu bringen. Musst Du den musikalischen Verlauf ein paar Sekunden vorausahnen, um dann rechtzeitig in Aktion treten zu können?“
„Wenn man genügend Verbindung zu seinen Instrumenten hat und dann auf den Tisch schaut, weiß man, wie sie klinge. Hört man einen bestimmten Sound, so sieht man gleich das geeignete Instrument, nimmt es und spielt. Manchmal passiert es mir noch, dass ich das Instrument doch nicht gleich finde. Dann spiele ich eben nicht. Es ist nämlich oft wichtiger, nicht zu spielen, als den falschen Sound einzubringen oder das falsche Instrument einzusetzen. Man muss die Instrumente auf dem Tisch sorgfältig ordnen: Hölzer,, Metall, Trommeln, Congas, Becken., Wenn ich ein Instrument ergriffen habe, spiele ich es eine gewisse Zeit, um ihm Raum zu geben, bis ich wieder einen neuen Klang höre und ein anderes Instrument nehme.“
„Du hast auch selbstgebaute Instruments zur Verfügung. Vor kurzem sah ich eine Blech-Figur . . .“
„Ich habe in Berkeley, Kalifornien, einen Freund namens Peter Engelhart. Er ist sowohl Musiker als auch Bildhauer und arbeitet mit Metall. Wir treffen uns öfters für ein paar Tage, wobei wir die Instrumente entwerfen. So hat er für mich eine Roboter-Frau konstruiert, die ich Josephina nenne. Ich habe aus dem gleichen Material ein großes Gürteltier und einen Vogel mit Flügeln gebaut. Gerade habe ich die Idee, ein Skelett mit vielen Klängen zu bauen.“
„Was hältst Du von den Drum-Computern? Hast Du Dich mit diesen Rhythmussynthesizern schon beschäftigt?“
„Nein, ich habe sie noch nie ausprobiert, ich keine natürlichen Sounds mit Electronics mischen möchte. Ich bin nicht in der Computer-Ära geboren. In diesem
Leben bin ich noch ein Perkussionist mit natürlichen Klangerzeugern, in meinem nächsten Leben kann ich vielleicht ein Computer-Mann sein …“
„Glaubst Du, dass die Drum-Computer eine Gefahr für den ‚human touch‘ im Jazz sind?“
„Es gibt es so viele Dinge, die heute für Musiker gefährlich sind. Die Maschinen können uns helfen; wenn wir aber nicht wissen, wie wir diese zu behandeln haben, werden sie sehr gefährlich. Das ist wie mit den verschiedenen Regierungen der Welt: Sie haben so viel Geld. Und wenn sie damit nicht richtig umgehen, zerstören
sie die Menschheit … Die Bewegung geht wieder zurück zum natürlichen Sound, die elektronische Musik ist für viele ältere Musiker nur eine Modeerscheinung.“
„Du gebrauchst nicht nur Deine Instrumente, Du gebrauchst auch Deine Stimme, singst portugiesisch und produzierst VokaIgeräusche wie in der Zeitgenössischen Musik. Warum tust Du das?“
„Das ist für mich eine ganz natürliche Sache. Der erste Laut, den ein Mensch der Geburt von sich gibt, wird mit der Stimme erzeugt. Die Kombination zwischen Percussion und Stimme gelingt sehr gut. Jeder Perkussionist sollte auch seine Stimme einsetzen, er muss ja dabei feine Songs von sich geben. Die Stimme an sich vermag ein ganz schönes Perkussionsinstrument zu sein. Wenn die Inder
Tabla-Spiel erlernen, müssen sie zuerst auch die Rhythmen und Töne singen.“.
„Was ist für Dich wichtiger – der Sound oder der Rhythmus?“
„Ich denke, dass beides sehr, sehr wichtig ist Sie sind von gleicher Bedeutung. Der Sound existiert nicht ohne Rhythmus, und der Rhythmus existiert nicht ohne Sound. Es verhält sich wie bei Mann und Frau – beide sind aufeinander angewiesen.“
„Du arbeitest augenblicklich an einer Brasilianischen Messe. Kannst Du schon mehr darüber sagen?“
„Woher weißt Du das? Das sollte eigentlich ein Geheimnis sein … Ich beschäftige mich damit seit einigen Jahren. Die Messe hat zu tun mit Sounds, Percussion, Liedern und der geistigen Welt. Und diese spirituelle Welt sind wir. Die heutige Welt ist geprägt vom Kampf zwischen den Leuten, die an das Materialistische und an das Spirituelle glauben. Die Materialisten glauben, dass das Leben mit der Geburt beginnt und mit dem Tod endet. Sie denken nur an Geld, Macht, Position und wollen alles, was dagegensteht, mit Atomwaffen zerstören. Die Leute mit der geistigen Gedankenwelt glauben hingegen an das Weiterleben nach dem Tode, weil die Seele niemals stirbt. Sie hoffen, später in besseren Umständen wiedergeboren zu werden. Wir müssen einsehen, dass die spirituelle Welt wichtiger als die materielle ist. Meine Messe wird all die Sätze einer herkömmlichen Messe haben, sie ist für ein sechzigköpfiges Orchester …“
„.. ein klassisches Orchester?“
„Ja, es besteht aus Streichern, Blechbläsern und so weiter. Dann wird es einen Chor geben. Ich denke noch daran, zwei befreundete Perkussionisten – Trilok Gurtu und Fredy Santiago – zu integrieren. Man kann gut mit ihnen arbeiten, sie spielen wunderbar. Da ich weder Noten lesen noch schreiben kann, singe und spiele ich meine kompositorischen Gedanken und nehme sie auf Tonband auf. Drei Wochen lang werde ich mich dafür mit Gil Evans zusammensetzen, der die Arrangements bewerkstelligen wird. Er wird dann auch der Dirigent sein. Diese Messe soll im Dezember 1983 in Deutschland uraufgeführt werden – in einer großen Kirche als Produktion vom WDR.“
„Die Texte sind genau mit der konventionellen Liturgie der Kirchenmessen identisch?“
„Nach der Introduktion kommt die Kyrie, dann Gloria, Credo, Communion und schließlich der Schlusssatz.“
„Wie sieht es mit den Improvisationen aus? Werden diese lediglich den Perkussionisten vorbehalten sein?“
„Nein, da gibt es einige Parts, die ziemlich frei ausgeführt werden können, wobei ich grafische Notation verwende. Außerdem wird der Chor auch sprechen, nicht nur singen. Gerade suche ich in Büchern nach alten lateinischen Texten. Meine Messe soll für die Welt eine Friedensbotschaft bringen.“
„Wie lange wird die Messe dauern?“
„Etwa eine Stunde.“
„Was denkst Du über die derzeitige politische Situation in Brasilien?“
„Die müssen viel Geld aufbringen, um es den Vereinigten Staaten zurückzuzahlen. Das geht auch vielen anderen Ländern so. Brasilien ist wirklich ein schönes Land, aber immer noch sehr arm, obwohl Rio aussieht wie die anderen großen Städte der Welt. Außerhalb der Metropolen kann aber das Leben sehr schön sein. Meine Eltern wohnen in Curitiba in der südbrasilianischen Provinz Parana. Das ist eine wundervolle Stadt, die Menschen sind so nett, die Atmosphäre ist schön. Die Leute sind glücklich, denn sie denken nicht an Politik, Geld und Machtintrigen. Ich kenne mich nicht so sehr in der Politik aus, ich bin nur ein Musiker. Aber ich sehe die TV-Nachrichten, lese Zeitung und diskutiere mit Freunden.“
Airto Moreira Fotos von Hans Kumpf
Hans Kumpf schrieb am 27.12.1983 in den Stuttgarter Nachrichten:
Die Messe eines Noten-Analphabeten
Uraufführung in Köln: die „Missa Espiritual“ des Brasilianers Airto Moreira
„Meine Messe hat zu tun mit Sounds, Percussion, Liedern und der geistigen Welt. Und diese spirituelle Welt sind wir. Die heutige Welt ist geprägt vom Kampf zwischen den Leuten, die an das Materialistische und an das Spirituelle glauben. Die Materialisten denken nur an Geld, Macht, Positionen und wollen alles, was entgegensteht, mit Atomwaffen zerstören. Die Leute mit der geistigen Gedankenwelt hoffen, später in besseren Umständen geboren zu werden.“ Dies sagte mir vor einem halben Jahr Airto Moreira, der in der Jazz- und Pop-Branche als die Nummer 1 der Perkussionisten gilt.
Der Westdeutsche Rundfunk in Köln machte ihm die Realisierung seines seit Jahren gehegten Planes möglich, nämlich eine eigene „Brasilianische Messe“ zu schaffen. Eine Voraufführung der „Missa Espiritual“ gab es eine Woche zuvor in Duisburg im Rahmen eines Gottesdienstes. Von der traditionellen Liturgie hatte Moreira nur die Teile „Kyrie“ und „Gloria“ übernommen. Eingerahmt wurden diese durch „Entroito“ sowie „Finis“ und durch eine instrumentale ,Comunhao“ ergänzt.
Kirchenlateinisches, Englisches und Portugiesisches im Wechsel: Ein Hymnus an die Freude, Lobpreisung Gottes, Anbetung der (heilen?) Natur. Der Brasilianer Moreira hat damit nicht den ersten Versuch unternommen, eine Messe mit südamerikanischen Mitteln zu komponieren. Die 1964 entstandene „Misa Criolla“ des Argentiniers Ariel Ramirez beinhaltet gleichfalls folkloristische Melodien und Latino-Rhythmen. Lebensfreude und eine ungebändigte Vitalität durchdrangen erst, recht das Opus von Airto Guimorva Moreira. Er und seine beiden in Deutschland lebenden Schlagwerker-Kollegen Triluk Gurtu und Fredy Santiago dominierten im musikalischen Geschehen. Und die Drei zauberten wahre Naturklanglandschaften auf ihren Instrumenten, wobei Moreira auch als Vokalist agierte.
Wenig zu tun hatte dagegen, die halbe Hundertschaft des Orchesters: Die Streicher vom Kölner Rundfunkorchester durften einen Schleier über das Ganze legen und nach grafischen Anweisungen spielen, erinnerten aber noch an Klischees von „Ave Maria“, über Morricone bis zum „Concierto de Aranjuez“. Lamentierend und lieblich romantisch gaben sich die Waldhörner. Fast arbeitslos war die WDR-Big-Band, lediglich Altsaxophonist Heiner Wiberny konnte als einziger des riesigen Orchesterapparats eine Soloimprovisation loswerden. Schöne Wechselgesänge lieferte sich Airto Moreira im „Gloria‘ mit dem Ensemble „Boite a Musique“, welches jedoch auch den Swingle-Singers-Sound zu intonieren hatte. Den Kölner Aufführungsort „Groß St. Martin“ hat sich der WDR aus optischen Gründen für seine TV-Aufzeichnung ausgesucht. Akustisch war das Konzert für die anwesenden Zuhörer ungenügend. Insgesamt hat Airto Moreira jedoch ein emotional eindrucksvolles Werk konzipiert – seine südamerikanische Mentalität, die durch die Zusammenarbeit mit Miles Davis, John Coltrane und Ravi Shankar weltoffen geworden ist, unterscheidet sich natürlich von europäischer Kopflastigkeit. Er ging die Sache mit viel Tatendrang und „gesunder“ Naivität an. Noten lesen und schreiben kann er nicht. Deshalb sang er seine melodischen Ideen auf Tonband und ließ sie von Gil Evans, dem berühmten „coolen“ Klangästheten, arrangieren. Der hätte eigentlich das Orchester leiten sollen; wegen eines Augenleidens gab der 71-Jährige jedoch das Dirigat an seinen Assistenten Marcos Silva ab und mischte immerhin „live“ an Synthesizern mit.