Alle Photos auf dieser Seite: Hans Kumpf
1989 schaffte Nigel Kennedy mit seiner Interpretation von Antonio Vivaldis „Die vier Jahreszeiten” eine Weltsensation. Das Barockwerk machte das Talent aus England zum absoluten Klassik-Bestseller aller Zeiten. Über drei Millionen Mal wurde der Tonträger bislang verkauft. Doch wegen seines oft rüpelhaften Benehmens auf der Bühne eilt dem am 28. Dezember 1956 in Brighton geborenen Musikers immer noch der Ruf eines „enfant terribles“ voraus. Vielfach verwirrend sind zudem seine Genre-Grenzüberschreitungen: Nigel Kennedy tummelt sich gerne noch auf der Jazzszene und in Rock-Arenen.
Der Liebe wegen – sie heißt Agnieszka – hat es Nigel Kennedy Anfang des Jahrtausends nach Krakau gezogen. Und jetzt bereichert der Saitenkünstler einerseits das polnische Musikleben und anderseits setzt er sich global für die polnische Musikkultur ein.
So geriet sein Jimi-Hendrix-Programm, das er Mitte März in der neuen Sporthalle von Gdynia präsentierte, quasi zum Heimspiel. Landesweit wurde zwar für dieses Konzert geworben, doch es hätte die doppelte Menge von Zuhörern in den nüchternen Zweckbau gepasst. Vielleicht lag dies auch an den für viele Menschen zu hohen Eintrittspreisen, die sich umgerechnet zwischen 15 und 40 Euro beliefen. Immerhin: Das Publikum war altersmäßig breit gestreut – nicht nur geistige Woodstock-Veteranen oder senile Klassik-Freunde, sondern auch Jugendliche. Eher zögerlich als enthusiastisch sollte dann der Applaus ausfallen.
Keine Vorgruppe oder Konserven-Musik vor dem Auftritt. Zehn Minuten nach planmäßigem Konzertbeginn ein erstes aufforderndes Klatschen, dass man anfangen möge. Nach weiteren zehn Minuten erscheint der eigenwillige Star im Trikot seines geliebten Fußballvereins Aston Villa (Birmingham) endlich höchstpersönlichst auf der Bühne und stellt seine „fucking”-Kollegen vor: Seinen Landsmann Doug Boyle (Gitarre) und aus Polen den Keyboarder Piotr Wylezol, den Bassisten Adam Kowalski und den Perkussionisten Krzysztof Dziedzic.
Zunächst lässt Nigel Kennedy seine elektrische Violine erschallen, aktionistisch mit vielen Doppelgriffen, „hot“ – ohne spontane Interaktionen und frei von improvisatorisch herausgespielten Entwicklungen. Der Meister aller Klassen Kennedy dominiert absolut. Immerhin darf Gitarrist Boyle mal kurz ein Solo einflechten, welches sich aber instrumentaltechnisch nicht an Hendrix orientiert. Dann eine klare stilistische und lautstärkemäßige Zäsur. Nigel Kennedy greift zur konventionellen Korpusgeige und agiert kammermusikalisch dezent mit dem von der Bassgitarre zum Kontrabass gewechselten Kowalski, dem anstatt die Hammond-Orgel nun den Flügel bedienenden Wylezol und dem subtil vorgehenden Schlagwerker Dziedzic. Verurteilt zum Schweigen ist bei diesem „pianissimo“ der E-Gitarrist Boyle.
Von Hendrix steht später noch dessen Hit „Purple Haze“ auf dem Programm. Keineswegs wird der legendäre Gitarrist, der 1970 nur 27-jährig starb, nur „gecovert“. Nigel Kennedy provoziert nicht wie Jimi Hendrix aufheulende Feedbacks, bringt nicht mit den Zähnen die Saiten in Schwingung oder demoliert gar schlussendlich das Instrument. Nichts von alledem. Der Star von Woodstock 1969 dient allenfalls zur Inspiration, vielleicht auch zum Marketing-Gag: „The Kennedy Experience“, wie die entsprechende CD lautet.
Krzysztof Dziedzic trommelt auch regulär bei dem Krakauer Gitarristen Jarek Smietana, mittlerweile fast ein Urgestein der polnischen Jazzszene und seit den 80er Jahren auch oft in Deutschland konzertant aktiv. Smietana brachte 2009 unter dem Motto „Psychedelic – The Music of Jimi Hendrix“ eine CD heraus, und auch hier wirkte der Brite bei drei Titeln als Gastmusiker mit. Und Nigel Kennedy war sich nicht zu schade, mit Smietana immer wieder auch in kleineren Jazzclubs aufzutreten.
Freilich: Mehr als für (verstorbene) amerikanische Pop-Heroen setzt sich Nigel Kennedy für die Musik seiner neuen Wahlheimat ein. Signifikantes Beispiel hierfür ist die CD „Polish Spirit“. Hier geht es nicht so sehr um Spirituosen, wie das Cover bildlich suggerieren mag, sondern um den kulturellen Geist Polens. Da interpretiert der geneigte Nigel demütig Violinkonzerte zweier weniger bekannter polnischer Spätromantik-Komponisten: Emil Mlynarski (1870-1935) und Mieczyslaw Karlowicz (1876-1909). Weil mit diesen beiden Werken der Tonträger noch nicht ausgefüllt war, spielte Kennedynoch zwei Klavier-Nocturnes der Nationalikone Frédéric Chopin ein – von Krzesimir Debski arrangiert für Solovioline und Sinfonieorchester.
Debski, Jahrgang 1953, spielt selbst Geige – mit seiner Formation „String Connection“ sorgte er bereits vor drei Jahrzehnten für Furore und wurde damals von den Lesern der Warschauer Zeitschrift „Jazz Forum“ zum „Polnischen Jazzmusiker des Jahres“ gewählt. In der Zwischenzeit bewährte sich Krzesimir Debski noch als Dirigent und als Filmmusikkomponist. Auf die Frage, ob Nigel Kennedy denn wirklich kreativ improvisieren könne, antwortete mir Debskiim Jahre 2009: „Aber ja. Ich verbrachte viele Stunden in Clubs damit, mit ihm zu jammen. Er ist ein improvisierender Musiker – natürlich.“
Kennedy verweist gerne darauf, dass er bereits als Teenager zusammen mit dem Django-Reinhardt-Geiger Stéphane Grappelli improvisierend musiziert habe. Von Jugend an ist das Wunderkind also stilistisch mehrgleisig tätig gewesen. Unbestritten bleiben seine Qualitäten im Klassik-Sektor – über seine Bedeutung in den Sektoren Jazz und Rock gehen die Meinungen auseinander.
Einmütigkeit herrscht widerum über die Wohltaten, die Nigel Kennedy dem kammermusikalischen Sektor Polens angedeihen lässt. Nachdem er bereits 2002 zum Künstlerischen Leiter des „Polish Chamber Orchestra“ ernannt worden war, gründete er noch das „Orchestra of Life“ mit begabtem Musikernachwuchs Polens.
Ganz groß Werbung für das vielfältige Musikleben Polens machte er mit „Nigel Kennedy’s Polish Weekend“, welches im Mai 2010 im Londoner „South Bank Centre“ stattfand. Unkonventionell agierte Nigel Kennedy auch zu dieser Gelegenheit. Klassik, Klezmer, Rock, Pop, Jazz – der ewige Punk bleibt unberechenbar.