Alle Photos auf dieser Seite: Hans Kumpf
Groß- oder Kleinschreibung, zusammen oder auseinander, Neutrum oder Femininum, Singular oder Plural? Auch im 20. Jahr seines Bestehens herrscht beim Stuttgarter Sommerfestival namentlich vielfältige Uneinigkeit: „Jazzopen“, „jazzopen“, „Jazz Open“, „JazzOpen“…Schon ein Kuddelmuddel.
Gewiss bleibt, dass bei der Festivität mehr die kommerziell ergiebigen Randbereiche als der Kern des, wenn man so sagen will, „eigentlichen“ Jazz berücksichtigt werden. Ein wahres Monstrum mit etlichen Zeitüberschneidungen. „40 Konzerte – 8 Tage – 6 Locations“ propagierte Jürgen Schlensog und sein Veranstalter-Team.
Der erste Festivaltag vermeldete mit fünftausend Karten „Ausverkauft!“. Als Ort dieser musikalischen Handlung diente Stuttgarts „gute Stube“, der Innenhof vom Neuen Schloss (welcher sich offiziell „Ehrenhof“ nennt und in dem schon mal Bundeswehrsoldaten unter pfiffigem Protest vereidigt wurden). Publikumsmagnet war eine im Jazz weniger bedeutende Persönlichkeit, nämlich die Pariser Sängerin Zaz alias Isabelle Geoffrey. Stimmlich zwischen Edith Piaf und France Gall orientiert, offerierte sie stilistisch Breitgefächertes. Ihre Begleitband hatte zuweilen den gitarristischen Sound vom „Hot Club de France“ drauf. Interessant die flotte Version von Chick Coreas „Spain“ mit instrumental eingesetztem Vokalorgan.
Die späteren Freiluft-Veranstaltungen erfreuten sich gleichfalls besten regenfreien Wetters, auch wenn das Publikum bei der eingeplanten dritten Zugabe des populären Supertramp-Mannes Roger Hodgson, der von den Stuttgarter Philharmonikern (Dirigent: Bernd Ruf) begleitet wurde, frohgestimmt „It’s raining again“ mitträllerte. Im vorausgegangenen Act ließ auf der Bühne der auf rockigen Blues spezialisierte Mundharmonika-Virtuose Charles Pasi (Jahrgang 1984) seine arrivierten Instrumentalkollegen Jean „Toots“ Thielemans und Howard Levy ziemlich alt aussehen. Der Franzose trat übrigens mit drei schwäbischen Bläsern an, darunter der frisch gekürte baden-württembergische Landesjazzpreisträger Sandi Kuhn am Tenorsaxophon. Für Freunde der „reinen“ Jazzkultur eher uninteressant erwiesen sich an gleicher Stelle Steve Winwood und Bonnie Raitt.
Lang Lang auf einem Jazz-Festival? Der Mega-Pianist der klassischen Art wird von den Allianz-Versicherungen als Botschafter für den asiatischen Raum eingespannt. Da die Allianz nicht nur die Bayreuther Wagner-Festspiele versichert, sondern auch das Festival in Stuttgart, mutierte der Münchener Konzern schließlich zu einem der drei Premium-Sponsoren von JazzOpen und finanzierte kräftig den smarten Chinesen. Noch vor dem Abendkonzert verriet der emsige Kontrabass-Professor Mini Schulz, ansonsten auch JazzOpen-Macher und Vizepräsident vom Landesmusikrat Baden-Württemberg, dass der Superstar aus dem Land der Mitte ein kameradschaftlicher Typ sei, überhaupt nicht „zickig“ spiele und sich um ein jazziges Zeit-Gefühl bemühe. Freilich, als dann Lang Lang sehr kammermusikalisch zum Liedbegleiter von Dee Dee Bridgewater konvertierte, las er die jazzbetonten Noten konsequent vom Blatt ab. Letztendlich verzauberten beide mit einem doch schmalzlosen „Somewhere over the Rainbow“. Zuvor kooperierte die immer noch furiose Vokalistin mit einem konventionellen Jazz-Quartett, das alternativ von den Pianisten Ramsey Lewis und Edsel Gomez angeführt wurde.
Zusammen mit dem von seinem Chefdirigenten Stéphane Denève geleiteten Radio-Sinfonieorchester Stuttgart solierte Lang Lang bei George Gershwins „Rhapsody in Blue“. Außerdem im gemeinsamen Programm: Ravel und Chopin. Ein unvergessliches Jazz-Klassik-Happening jedenfalls. Im Orchester saß übrigens ordentlich befrackt und mit konventionellem Fagott ein ansonsten eingefleischter Jazz-Saxophonist: Libor Sima.
Einen kleineren und vergleichsweise intimen Rahmen bietet die Open-Air-Bühne am Mercedes-Benz-Museum im Ortsteil Bad Cannstatt. Der nicht mehr so erstklassige Autobauer ist ja wie die Sparda-Bank ein weiterer Premium-Sponsor des Festivals. Das Konzert der Kanadierin Diana Krall in diesem modernen Amphitheater war als erstes aller Events total ausverkauft. Hohen Unterhaltungswert entfachte auch der mit szenischen Effekten jonglierende Pianist Chilly Gonzales, während bei dem indisch stämmigen Tastenmann Vijay Iyer intellektuelles Kalkül dominierte.
Etliche Jazzmusiker der Region zog es jedoch zu dem Keyboarder Robert Glasper. Wenn vehemente Cecil-Taylor-Piano-Kaskaden mit knackigen Bass&Drum-Rhythmen unterlegt und noch mit elektronischem Schnickschnack angereichert werden, dann findet eine solche Musik heutzutage ein Publikum. Optisch und akustisch auffällig: Vokalist Casey Benjamin mit Saxophonen und Vocodern.
Weniger spektakulär, aber desto inhaltsreicher zeigten sich Gigs im Jazzclub „Bix“. Zu nennen seien hier beispielsweise der norwegische Saxophonist Marius Nesset und der schwedische Pianist Martin Tingvall. Dem Nachwuchs eine Chance gab erneut die Aktion „Playground Baden-Württemberg“. Doch hier wurde vielfach eher altertümlich gerockt als neuzeitlich gejazzt.
Zum Abschluss der/des Stuttgarter JazzOpen wurde fast schon traditionsgemäß die „German Jazz Trophy“ verliehen. Die von dem Bildhauer Otto Herbert Hajek einst kreierte Skulptur ging jetzt an einen Amerikaner in Köln, an den 85-jährigen Lee Konitz. Der weiße Altsaxophonist, der zuweilen auch das Sopran und das Tenor nicht verschmäht, spielte als junger Twen ab Januar 1949 mit dem schwarzen Trompeter Miles Davis die wegweisende Platte „Birth of the Cool“ ein. Fortan hörte man von Lee Konitz stets kultivierte Töne.
Die abstrakten und freitonalen Melodielineaturen, die Lee Konitz in seiner vielfachen Zusammenarbeit mit dem Pianisten Lennie Tristano blies, wirkten seinerzeit in der Jazz-Branche geradezu revolutionär und umstürzlerisch. Sein ziemlich vibratoloser Ton entsprach – wie der „traurige“ Trompetensound von Miles Davis, in dessen „Capitol Orchestra“ Konitz ja kurze Zeit spielte – nicht der Norm. Cool Jazz: Cool sein und cool bleiben hieß die Devise, und dies musste in den fünfziger Jahren als arrogant bis provozierend erscheinen.
Der Improvisator und Ästhet Lee Konitz übte einen wichtigen Einfluss auf den mitteleuropäischen Nachkriegs-Jazz aus. Hans Koller und Albert Mangelsdorff beispielsweise haben vom ihm profitiert. Und der kühle und kühne Innovator integrierte immer wieder Neuerungen in sein Spiel und musizierte gerne in einem Umfeld, das man dieser Cool-Jazz-Figur eigentlich gar nicht zugetraut hätte. So trat Lee Konitz bei den Donaueschinger Musiktagen 1979 zusammen mit den Free-Jazzern Don Cherry und George Lewis in Karl Bergers „Woodstock Workshop Orchestra“ auf.
Der am 13. Oktober 1927 in Chicago geborene Konitz ist auch im hohen Alter mit einem wachen Geist und mit künstlerischer Neugier gesegnet. Da steht kein Fossil auf der Bühne mit einer Begleitband als willige Wasserträger. Vielmehr interagierte und kommunizierte der große Meister mit seinen ein bis zwei Generationen jüngeren Kollegen eng verzahnt. Pianist Dan Tepfer, Bassist Jeremy Stratton und Schlagzeuger George Schuller, ein Sohn des berühmten Third-Stream-Komponisten Gunther Schuller, überzeugten beim obligatorischen Preisträgerkonzert als kongeniale Partner. Vor erlauchtem Publikum wurden ganz lebendig Stücke aus Lee Konitz eigener Feder und von dessen Lehrmeister Tristano interpretiert, aber auch ein vertrautes Standard wie „Stella by Starlight“ aufgefrischt und geradezu abstrakt über die Harmoniefolgen von „All the Things you are“ improvisiert.
Preisend mit viel schönen Reden hatte der Festabend im „SpardaWelt Eventcenter“ am Stuttgarter Hauptbahnhof begonnen. Überirdisch wurden da in Lobeshymnen geschwelgt und eifrig – mehr oder weniger hilfreiche – Zitate bemüht. Die ansonsten auf New-Orleans-Reisen spezialisierte „Kulturgemeinschaft Musik+Wort e.V“, die in Regensburg erscheinende „Jazzzeitung“ sowie die „Stiftung Kunst & Kultur“ der Sparda-Bank Baden-Württemberg haben jetzt also zum 13. Mal die „German Jazz Trophy“ für ein Lebenswerk verliehen. Mit Lee Konitz wurde eine weltweit wichtige Persönlichkeit auserkoren, die auch in Deutschland maßgebliche Spuren hinterlassen hat.
Auch Wolfgang Dauner, der 2003 mit der Stuttgarter Trophäe bedacht worden war, zeigte sich überrascht von der musikantischen und geistigen Präsenz von Konitz. Denn als Dauner in einem Gespräch mit dem Amerikaner anmerkte, er hätte Lee Konitz in der Landeshauptstadt erstmals 1956 gehört, korrigierte der Saxophonist den Pianisten umgehend – dies müsse bereits auf einer Tournee 1953 geschehen sein. Damals war Jungtalent Dauner 17 Jahre alt…
Medien-Hinweis:
Im Internet konte man das kurzweilige Konzert von Lang Lang samt Dee Dee mit dem RSO beim SWR jederzeit nacherleben. Der Kulturkanal „arte“ bringt einen Mitschnitt am Sonntag, 21. Juli, um 17.40 Uhr. Wer sich visuell nicht ablenken lassen will, dem sei die Hörfunksendung von SWR2 am gleichen Tag um 20.05 empfohlen.