„Lost Chords“ nennt die Pianistin und Komponistin Carla Bley ihre Tournee, „Lost Chords“ ist der Titel ihres suitenartig aufgebauten Stückes zum regulären Schluss des Konzertes in der Rüsselsheimer Jazzfabrik. „Lost Chords“ kennzeichnet aber auch das ökonomische Spiel der Künstlerin auf dem Flügel.
Es sind die Pausen, die gleichberechtigt neben den Akkordeinwürfen stehen. Pausen, die den Fluss des Spiels aber nicht unterbrechen, sondern Akzente setzen. Pausen, die die Eigenwilligkeit der Pianistin in den vertrackten und sperrigen Läufen charakterisieren. Thelonious Monk hat damit Schule gemacht. Aber nur der Bassist Charles Mingus hat auf seiner einzigen Piano-Solo-Platte aus dem Jahr 1963 mit dem treffenden Titel „Spontaneous Compositions and Improvisations“ diese Spielweise noch extremer umgesetzt.
Carla Bley liebt Irritationen. Schon die Titel verraten den hintergründigen Humor, der in ihren Kompositionen steckt. „Tropical Depression“ etwa, das an diesem Abend wohlklingend eher süchtig als depressiv macht, oder „Valse Sinistre“, ein schräger Walzer mit Blue-Notes und einem verqueren Drei-Viertel-Takt.
Wie beiläufig verbindet Carla Bley in ihren Stücke Einfachheit und Komplexität. Gewagte Harmoniesprünge bettet sie in scheinbar simple Songstrukturen. Ein Paradebeispiel ist im Rüsselsheimer Konzert das dreisätzige „Three Blind Mice“, das wie üblich mit ein paar sparsamen Akkordblöcken eingeleitet wird, bevor es in ein swingendes Kollektiv übergeht. Später wird das Sopransaxophon in einen schnellen und ungewohnt expressiven Bebop-Lauf verfallen mit viel Vibrato und Trillern. Das Stück endet schließlich mit einem melodiösen Altsaxophon-Solo und einem suchenden und tastenden Akkordspiel auf dem Flügel.
Albert Mangelsdorff, der allgegenwärtige, inzwischen 75 Jahre alt gewordene Repräsentant des deutschen Jazz, wurde an diesem Abend für sein Lebenswerk geehrt. Reinhard Kager, Leiter der SWR-Jazzredaktion überreichte dem Frankfurter Posaunisten eine Kassette, in der auf 16 CDs alle bemerkenswerten Aufnahmen gebrannt sind, die der Sender in seinem Archiv auffinden konnte. Damit werde ihm die Zeit der Rekonvaleszenz nicht langweilig, kommentierte Albert Mangelsdorff das Geschenk.