Bach im Rausch der Zitate

Uraufführungen von Ulrich Süße und Gregor Hübner in der Leonhardskirche 

Stuttgart.- Die Zeiten sind längst vorbei, als dass Helmuth Rillings Bachakademie sich als wehrhafte Gralshüterin vom reinen Johann Sebastian begreifen hätte können. Mutig und kreativ werden Genregrenzen überschritten – und dem Barockmeister erst recht zur steten Aktualität verholfen. Jacques Loussier durfte sogar mit seinem „Play Bach“ in der Staatsoper aufspielen, und jüngere Jazzer konnten sich improvisatorisch und kompositorisch über das musikalische Erbe Europas auslassen. Unter dem Signet „Bach und Jazz“ präsentierte das Musikfest eine vielschichtige Collage von Original-Kompositionen mit ausgedehnten Improvisationen, umrahmt von zwei Uraufführungen. 

Der 1944 in Gaildorf geborene Ulrich Süße hat sich an der Stuttgarter Musikhochschule vor allem als Elektronik-Spezialist hervorgetan. Außerdem doziert der Professor oft in Südamerika, Australien und den USA. Jetzt ließ Süße, ansonsten musikantisch an Orgel, Bratsche und Geige aktiv, in seiner gewitzt betitelten Streicher-Komposition „BWV 2005 or The Viola in Bach’s Life“ durch artifizielle Sampling-Methoden aufhorchen.

Wie in einem Vexierbild versteckte Ulrich Süße zwischen ziselierenden Glissandi und schmerzenden Dissonanzen populäre Melodien des Thomaskantors – ein zitatenrauschender Bach sozusagen. Es tauchten agogisch romantisierende Momente auf, die bis zur obertonhaften Klangforschung getrieben wurden.

Nicht eigens benannt wurde eine von Bernd Ruf und Gregor Hübner organisierte dreiviertelstündige Collage von Bach-Bruchstücken und jazzigen Improvisationen. Da brillierte der einfühlsame Ekkehard Rössle auf Tenor- und Sopransaxofon, mittels elektronischer Transformation machte Cellist Dave Eggar beinahe auf „Switched on Bach“. Als beherzter Violin-Virtuose agierte Gregor Hübner in der Nachfolge von Stephane Grappelli und Jean-Luc Ponty.

Die aus dem amerikanischen Bundesstaat Oregon stammende Stimmakrobatin Lauren Newton brachte in ihren diversen Soli theatralische Dramatik ein – die Sopranistin klingt immer unverwechselbar und sorgt für Spannung. Andererseits konnte sie sich an dem Abend auch bestens in den Sound vom Männerquartett „Hofkapelle“ einfügen. Als Dreh- und Angelpunkt diente der von Edzard Borchards (Altus), Lothas Blum (Tenor), Claus Temps (Bariton) sowie Peter Zimpel (Bass) a-capella vorgetragene Bach-Choral „Es ist genug“. 

Klar in 16 Teile gegliedert war das Patchwork, dabei Übernahmen von Parts aus der „Kunst der Fuge“ und aus dem „Musikalischen Opfer“. Die Jazzer bezogen sich im Kollektiv improvisierend kompetent auf barocke Polyphonie samt obligatorischer Kontrapunktik 

Als „klassischer“ Klangkörper hatte das (Streich-)Orchester „European Arts Ensemble“ unter der umsichtigen Leitung von Bernd Ruf viel Freude an dem gelungen Fusionsprojekt. Und der geschätzte Universal-Dirigent offenbarte seine Jazzer-Seele, als er selbst noch zum Sopransaxofon griff und mit Ekkehard Rössle vorneweg in der „front line“ ein swingendes Duo einging. In den Schlussakkord mischten sich penetrant Martinshörner von außerhalb. Johann Sebastian Bach war also unüberhörbar im 21. Jahrhundert angekommen. Ergriffenheit herrschte im Gotteshaus, und das akademische Publikum wollte sich die innige Andacht offensichtlich nicht noch durch selbsterzeugten Applaus-Lärm stören lassen.

Die zweite wirkliche Uraufführung lieferte Gregor Hübner als alleinig verantwortlicher Komponist. „Bach 21“ nannte der 38-Jährige sein Auftragswerk der Internationalen Bachakademie Stuttgart: Introduktion – Choral – Fuge – Allegro Finale. Trotz aller Vielschichtigkeit bestachen Komposition und Improvisationen durch Geschlossenheit. Wenn JSB auch mal nicht direkt adaptiert wurde, so kam man dem Gestus und Duktus des in Eisenach geborenen Meisters gleich zu Beginn mit scharfkantigen Rhythmen sehr nahe. 

Der 1987 beim Landeswettbewerb „Jugend jazzt“ entdeckte Gregor Hübner aus Fronreute gehört ohnehin der neuen Musikergeneration an, die weltoffen ist und althergebrachte Musikbegrenzungen negiert. Auch bei ihm galt für die fachkundigen Rezipienten zuweilen das heitere Ratespiel „Erkennen Sie die Melodie?“. Leicht zu identifizieren war hier der Choral „O Haupt voll Blut und Wunden“ aus der Matthäus-Passion.

Als unnötig – aber zum Glück auch als nicht störend – waren bei den Aufführungen die auf eine dreiteilige Leinwand gebeamte „Visualisierung“ zu werten. Die dekorativen Minimal-Patterns schaffte heutzutage jeder Heim-PC mit dem mitgelieferten „Windows Media Player“ in Echtzeit, wenn man simple Audio-Daten einspeist.

Vom Südwestrundfunk wurde der Konzertabend mitgeschnitten. Die Ausstrahlung erfolgt am Samstag, 8. Oktober, ab 20.30 Uhr auf SWR 2. 

(September 2005)

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