„Mir war der ganze Abend zu Moll-lastig mit Dur-Auflösungen erst zum Schluss“ stellt eine Mainzer Jazz-Saxophonistin nach dem Konzert enttäuscht fest. Solch subtile Kritik ist nicht Sache des frenetisch klatschenden Publikum im fast ausverkauften Rüsselsheimer Theater. Es bringt den bei diesem Konzert der Jazzfabrik gut aufgelegten Saxophon-Star Branford Marsalis dazu, die vertraglich vereinbarte Zeit von 75 Minuten Konzert und 15 Minuten Zugabe reichlich zu überziehen. Fast zwei Stunden lang spannt das traumhaft eingespielte Quartett mit Branford Marsalis an Sopran- und Tenorsaxophon, Joey Calderazzo am Flügel, Kontrabassist Eric Revis und Drummer Jeff „Tain“ Watts den Bogen von lyrischen Balladen über den hektischen Hardbop bis zum Harmonien sprengenden Free-Jazz. Um gleichsam allen Fans nochmals klarzulegen, wie stark er bei aller Freiheit in der Tradition verwurzelt sei, interpretiert Marsalis auf seine kraft- und zugleich seelenvolle Weise Ellingtons Klassiker „It Don´t Mean A Thing, If It Ain´t Got That Swing“ zum Abschluss des Abends.
Lächelnd steht Marsalis auf der Bühne, hebt das Tenorsaphon an die Lippen und reitet eine wilde Attacke auf dem pulsierenden Fundament von Schlagzeug, Bass und Piano. Es sind jene rasenden Tongruppen, die Kritiker bei Branfords legendärem Lehrmeister John Coltrane „Sheets of sound“ nannten. In solchen Passagen verfällt Pianist Calderazzo in schnelle, klirrende Läufe mit hart angeschlagenen Akkorden in den Höhen und anschließenden Unterarm-Clustern in den mittleren und tiefen Lagen. Revis reißt gradlinige Akkordfolgen aus den Saiten des Kontrabasses und Schlagzeuger Watts treibt das Quartett groovend voran. In einem seiner expressiven Soli auf dem erdig klingenden Kontrabass schreit Revis seine Emotionen in den dunklen Saal.
Dann wechselt Marsalis zu langsameren, lyrischen Melodien auf dem Sopransaxophon, zu denen Calderazzo romantisierende Single-Note-Linien auf dem Flügel beisteuert und die Watts mit zarter Besenarbeit auf den Becken untermalt. Der weit schwingende Melodiebogen auf dem Saxophon wird mit leichtem Vibrato abgerundet, während Marsalis im späteren Verlauf des Konzertes auf dem Tenorsaxophon ein Stück mit anhaltendem Ton nahezu vibratolos schwebend ausklingen lässt. Technisch ist der inzwischen 46-jährige ohne Fehl und Tadel, kommt in inspirierten Momenten seinen großen Vorbildern Ben Webster, Lester Young und Sonny Rollins und vor allem John Coltrane recht nahe. Einzig die in mehreren Stücken immer wieder praktizierten ostinat kreisenden Harmonie-Variationen schränken den Eindruck grenzenloser Kreativität ein.
Eines der aufregendsten Stücke dieses Abends leitet Revis mit einem freien gestrichenen Bass-Solo ein, in das sich Marsalis mit explodierenden Improvisationen auf dem Tenorsaxophon einschaltet, Calderazzo auf dem Flügel Akkorde schichtet und Watts auf den Trommeln einen „pulse“ unterlegt. Die verqueren Metren und sich auflösenden Harmonien sowie die Rückführungen aufs Thema wecken Assoziationen an Jahrmarkt und Folklore gleichermaßen. Kontrastierend dazu folgt ein ruhigeres Thema mit melodischen Linien auf dem Sopransaxophon, verspielten, perlenden Läufen auf dem Piano sowie harmonisch reizvollen und doch straight gezupften Walking-Akkordfolgen auf dem Bass. Hinter diesen scheinbar einfachen Tutti stecken dennoch komplexe Strukturen mit einem Klassik-Touch.
Emotion und Disziplin halten sich ebenso wie Routine und Spielwitz insgesamt die Waage. Dass Branford Marsalis (mit seinen Begleitern) nach dem Konzert den Kontakt zu den Fans sucht, mit ihnen diskutiert und CDs sowie alten Platten signiert, macht ihn sympathisch.