Karl Seglem mit „Urbs“-Tour im Rüsselsheimer Jazzcafé „das Rind“ , 3. Oktober 2007

„Urbs“ – so viel wie „Stadt“ ist der Titel der neuen CD des Norwegers Karl Seglem, „Reik“, der altnorwegische Begriff für „im Fluss sein“, seine vorhergehende. Beides kennzeichnet auch die Musik des Konzertes, zu dem Seglem mit seinem Quartett ins Jazz-Café „das Rind“ gekommen ist.

In der intimen Atmosphäre des „Rind“ wirkt das Spiel auf den Geißbock-Hörner, der „Goat-Horns“ dank ihres Obertonreichtums im Zusammenklang mit Hakon Hogemos Hardanger-Fiddle, dem norwegischen Traditionsinstrument, stark emotional – ein Paradoxon, das der „nordischen Kühle“ innewohnt. In den Hörner hauchend, schnalzend und zischend steht Seglem auf der Bühne, lässt die Naturklänge atmen, bevor er zum Tenorsaxophon greift und in weit geschwungenen Melodiebögen das Instrument zum Singen bringt. Klare und transparente Linien, die vom gestrichenen Kontrabass gestützt und durch ostinate kurze Akkordfiguren auf der Violine unterstrichen werden. Auf „Salmen“ folgt „Marbla“, sonore Saxophon-Läufe ziehen ohrwurmgleich ins Gehör, während Gitarrist Olav Torget auf der Maultrommel gemeinsam mit dem sanft agierenden Percussionisten Helge Norbakken den Rhythmus vorgibt und Gjermund Silset den Kontrabass straight marschieren lässt. Die Musik ist tänzerisch beschwingt im Fluss wie bei dem sanften Walzer „Nye Sva“, zu dem Torget auf der Konting erdig trockene Akkordfolgen aus den Saiten zupft und im Zusammenklang mit der Fiddle Assoziationen zur gälischen Folklore weckt, die in den Klangfarben und Rhythmen vieles mit der norwegischen Volksmusik gemeinsam hat.

Für den städtischen Part stehen neue Kompositionen wie „Rorsletre“ mit komplexen Klangbildern, die geprägt sind durch jaulende Glissando-Läufe auf der elektrischen Gitarre und den groovenden E-Bass, abrupte Wechsel zwischen energetischem und zartlyrischem Spiel sowie einem überraschend sanften Finale. Jazziger als die früheren Kompositionen ist auch „Rudlande“ ein Rundtanz mit einem bebop-orientierten Saxophon- sowie einem coolen Gitarren-Solo über einem elektronischen Soundteppich. Norbakken schließlich streicht und klopft auf seinem exotischen Instrumentarium von indischen Trommeln über Autofelgen mit Steeldrum-Effekten bis zu kleinen Glöckchen und Becken ein langes Solo mit extremen Dynamikspüngen. 

Bei Karl Seglem verbinden sich auf faszinierende Weise die akustische Tradition mit Innovation, die natürliche Klangvielfalt mit den Soundverfremdungen der Elektronik. Vielfach unterreichen Hall-Effekte die hymnisch aufgewerteten schlichten Melodien, Gesang wird über Synthesizer eingespielt, der E-Bass donnert über Magnetabnehmer. Seglem gelingt es, zeitgenössische Elektronik nahtlos in seinen folkbetonten Jazz zu integrieren. Die archaisch anmutenden Klangformen auf Saxophon und Hörner kontrastieren reizvoll aufregend zu den künstlichen Soundteppichen. So hat der Norweger eine eigene Sprache entwickelt, die erdiger und bodenständiger wirkt als etwa die Musik von Jan Garbarek. Mystisch und meditativ, aber auch kraftvoll und energetisch – ein Wikinger der Moderne?

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