Stuttgart – Dank vieler Begleit- und Vorab-Veranstaltungen in Clubs und auf der Killesberg-Freilichtbühne wird das Stuttgarter Sommer-Jazz-Festival zu einer wirklich ausgedehnten Angelegenheit – und berücksichtigt dabei intensiv die regionale Szene. Kulminationspunkt bleiben freilich die vom Fernsehen sorgfältig dokumentierten Darbietungen im Konzert- und Kongresszentrum Liederhalle. Gleich beim ersten Event die Leitlinie der diesjährigen Festivität offenbar: Gesang. Mit Peter Fessler und Bobby McFerrin traten zwei meisterhafte Vokalartisten an.
Der 1959 in Köln geborene Fessler gefiel sich im doch nicht vollbesetzten Hegelsaal als amerikanisierter Entertainer, der vertrautes Standard-Material neu auffrischt. „My Funny Valentine“, „Over The Rainbow“ oder „All The Things You Are“ erfuhren hier harmonisch, melodisch, rhythmisch und textlich verblüffende Wendungen. Und auch Johann Sebastian Bachs C-Dur- Präludium erhielt eine gewitzte Bearbeitung – es muß ja nicht Gounods „Ave Maria“ sein. Die Spezialität des 40jährigen ist es, konsequent mit Obertönen zu modulieren – dies in der unüberhörbaren Tradition von Al Jarreau und Bobby McFerrin. Sein Tonumfang reicht vom Fisteltenor bis zum Bierbrauersbaß, besonders gern imitiert er noch Trompete und Posaune. Wenn sich Fessler selbst auf der Gitarre begleitet, wird sein Faible für Samba und Bossa Nova evident.
In der regulären Quartettbesetzung zeigten sich beim Stuttgarter Festivalauftritt besonders der Pianist und der Bassist Ingmar Heller (beide lernten sich vor zehn Jahren im nationalen Elite-Orchester „BuJazzO“ kennen) aufeinander eingespielt. Schlagzeuger Guido May hatte gleichfalls eine dienende Funktion inne: Peter Fessler fungiert eben als Front-, Scat- und Show-Man gleichermaßen.
Der subtile Schlagzeuger Danny Gottlieb und die weniger versierte Perkussionistin Beth Gottlieb verführten Bobby McFerrin gegenüber seinen früheren Stuttgarter Solo-Performances offensichtlich zu einer mehr rhythmisch ausgerichteten Darbietung, lediglich der agile Kontrabassist Jeff Carney blieb ihm als melodischer Widerpart. In der Quartett-Verbindung gab sich Bobby McFerrin bei der sechsten Ausgabe der „JazzOpen“ mehr introvertiert – wandte sich augenkontaktmäßig vom Auditorium zumeist ab und dafür intensiv seinen drei Musikerkollegen zu. Kein explizites Star-Gehabe, und „Don’t Worry, Be Happy“ gelangte nicht zur Aufführung. Vielmehr besann sich der barfüßige Bobby McFerrin seiner afrikanischen Wurzeln, changierte vom Country-Gejodel zum Blues, brachte mit „geraden“ Achteln viele barockale Linien zu Gehör, betrieb neutönerisch experimentell Klangforschung – und kredenzte in Rondoform einen globalen Zitatenschatzreigen.
Freilich erfolgte auch heuer der obligatorische Gang durch die Publikumsreihen samt hautnahem Wechselgesang zwischen Solist und animierter Chorgemeinschaft im Parkett. Vielleicht kennt man Bobby McFerrin inzwischen zu gut – in der Liederhalle absolvierte der Stimmakrobat (mit Drang zum Dirigieren) schon bessere Konzerte.
Zum „größten Swing-Konzert Europas“, wie es zuvor euphorisch hieß, kam es doch tags darauf doch nicht. Zwei Alt-Stars wurden da im Rollstuhl zur Bühne gekarrt – und glänzten lediglich mit ihrem vor Jahrzehnten erworbenen Namen. Bereits vor zwanzig Jahren konnte man konstatieren, daß Lionel Hampton nur noch ein Schatten seiner selbst darstelle. Nach einem einem Schlaganfall im Jahre 1995 agierte der Swing-Veteran am Vibraphon nur noch im Zeitlupentempo, mittlerweile haben seine Kräfte und sein Konzentrationsvermögen weiter nachgelassen. Allgemein wurde der vormalige Quartett-Kollege von Benny Goodman als 91jähriger geführt, in Stuttgart verkündete „Hamp“ nun wiederholt, sein wirklicher Geburtstag sei der 20. April 1914. Demzufolge hätte der aus dem Bundesstaat Kentucky stammende Instrumentalist die erste Plattenaufnahme mit Louis Armstrong 1930 eben als 16jähriger unternommen – wobei er ja übrigens vom Schlagzeuger zum Vibraphonisten konvertierte.
In Stuttgart präsentierte sich die Legende mit jungen Bläsertalenten, die mit Verve und Vergnügen die Swing-Vita weiterführten. Lionel Hampton konnte nur noch rechtshändig in quälender Mühe dürftige Melodielinien beisteuern. Die einzige Neuigkeit war, daß er bei dem Reißer „Sing, Sing, Sing“ in seine Improvisation ausgiebig die israelische Nationalhymne, die sich ja aus der gleichen Lied-Quelle wie Smetanas „Moldau“ speist, einfließen ließ. Bei seinen alten Hits kann sich der sehr verwirrt wirkende Hampton noch irgendwie zurechtfinden, schwierig ist für ihn relativ neues Material. So blieb er stumm, als Dee Dee Bridgewater „Shiny Stockings“ in einem von Frank Foster für das Count Basie Orchestra gefertigtes Arrangement sang. Aber bei dem – nicht nur zur Sonnenfinsternis aktuellen – Song „How High The Moon“ klöppelte er eine Intro und dann weitere Einzeltöne. Nachdem das Hampton-Konzert zeitversetzt im TV-Programm „Südwest BW“ zeitversetzt ausgestrahlt wurde, kam im Internet Chat-Jazzern die Frage auf, ob es Sinn mache, wenn ein Künstler in dieser Verfassung noch auftrete.
Fulminant überzeugen konnte an diesem Abend der vom Veranstalter lange Zeit anonymisierte „very special guest“, nämlich die 49jährige Denise „Dee Dee“ Bridgewater. Sie überragte auch die kurzatmige Rosemary Clooney beim gemeinsam vorgetragenen Ellington-Hit „It Don’t Mean A Thing. If It Ain’t Got That Swing“. Die nunmehr gehbehinderte Sängerin mag vielen Käufern von billigen Christmas-CD-Samplern durch ihre mütterlich-breiten Interpretationen von „Jingle Bells“ und „Rudolph, The Rednosed Reindeer“ vertraut sein. Wie Hampton zehrt auch die 70jährige von den Erfolgen der Vergangenheit. Gestartet hatte Rosemary Clooney den mit „Swing it“ betitelten Abend mit einer von dem Altsaxophonisten, Pianisten und Sänger Matt Catingub angeführten Big Band, die mit und ohne Sonnenbrillen auf Show setzte.
Noch mehr Theater machte abschließend das Sextett „Indigo Swing“. Die historisch kostümierten Amerikaner schwammen auf der Welle des modischen Swing-Revivals, inclusive einem szenisch aufgemotzten Ritt auf dem Kontrabaß als Pflichtkür. Im unten unbestuhlten Saal war eine Tanzfläche aufgewiesen, auf der sich extra einbestellte Tänzer im adäquaten Outfit mit hohem rhythmischem Feeling austobten.
Auch die 99er Ausgabe der JazzOpen brachte Karibisches. Die „Latin Jazz Night“ wurde eröffnet von Lilia Exposita Pino, genannt „Bellita“. Bei aller ausgeformter femininer Schönheit verbirgt die Kubanerin nicht ihre musikalischen Reize, wenn sie synchron zu den auf dem E-Piano gespielten Melodielinien scatartig singt. Viel feurigen Pfeffer im Blut haben auch die zwei Mannsbilder ihres Trios: der Schlagzeuger Alexander Napoles und Miguel Miranda Lopez, der nicht nur auf die Congas trommelt, sondern gleichzeitig linkshändig auf der Baßgitarre mittels Touch-Technik die Musik noch harmonisch fundiert. Vom wilden Süden ergänzten Saxophonist Andy Maile, Geiger Gregor Hübner und Gitarrist Helmut Sauer das kubanische Trio. Die Schwaben schlugen sich wacker; da freilich sämtliche Stücke auf dem gleich hohen Siedepunkt angesiedelt waren, stellte sich bei aller Brillanz doch Gleichförmigkeit und Langeweile ein.
Pianist Chucho Valdes, der mit seiner neuformierten Band ebenfalls für eine Premiere bei den JazzOpen sorgte, integrierte in seine Programm-Konzeption gewitzt so manche getragene Ballade. Da zauberte Giovanni Hidalgo auf vier Congas ein mehrminütiges Solo voller rhythmischer Raffinesse, Claudio Roditi zeigte auf seiner Klappenventiltrompete Intelligenz und Emotion, Posaunist Juan Pablo Torres führte einfache Liedmuster zu berstender Intensität. Und dann ein Duo auf zwei Flügeln. Mit Michel Camilo vollführte Valdes faszinierende Dialoge: Kämpferisches Hochgeschwindigkeitsspiel, diverse Bach-Anspielungen und dissonierende Cluster-Klänge. So manch müdes Festival-Ohr feierte da zu mitternächtlicher Stunde ein fröhliches Erwachen.
Bei der vierten und letzten Veranstaltung der „LBBW JazzOpen Stuttgart 99“ dominierte nicht der eigentliche Jazz, vielmehr hört man im Hegelsaal vom Kultur- und Kongresszentrum Liederhalle unter dem Motto „United Harmonies“ Popularmusik der Weltkulturen, mal originär, mal im angerockten Konglomerat. Gleich der erste Programmpunkt geriet zum musikalisch interessantesten. Südafrika, das Land von Miriam Makeba und Abdullah Ibrahim (früher: Dollar Brand), inspirierte mit seiner – vielfach christlich geprägten – Volksmusik schon so manchen Jazz. Das folkloristische Männer-Tentett „Ladysmith Black Mambazo“ betörte nun in abgerundetem Sound mit Kwela-Chorälen: der Leiter Joseph Shabalala nahm die Rolle des Vorsängers ein, zwei weitere Tenöre und sieben Bässe sorgten für die satte „Respnse“. Ein friedliches Miteinander, dies ist die Botschaft der bei aller sozialen Notlage doch so lebenslustigen Gruppe, von der sich 1986 Paul Simon für sein Album „Graceland“ (inzwischen als Enhanced-CD mit Computerdaten erschienen) begeisterte.
Stimmliche Disziplin paarte der Männerchor in Stuttgart mit sportlichen Bravourleistungen, nicht nur in Zulu-Tänzen – bei dem artistischen Beinschwingen erreichten die weißbeschuhten Füße mehr als Kopfniveau. Die Multi-Kulti-Welt ist ein elektronifiziertes Dorf, und schalkhaft verwiesen die Vielgereisten auf ihre Internet-Adresse: http://www.mambazo.com. Dort erfährt der geneigte Surfer mehr über die internationalen Tourneen, kann sich ins Gästebuch eintragen – oder die Sprache der Zulu erlernen.
Mit „Sambolera Mayi Son“ erzielte die aus Burundi nach Belgien emigrierte Vokalistin Khadja Nin einen ungeheuren Verkaufserfolg und beträchtliche Airplay-Summen. Die schwarze Gazelle, die in Stuttgart ausschließlich von weißen Instrumentalisten unterstützt wurde, verfügt über ein samtweiches Timbre. Aber auch spanischsprachiger Calypso ließ die zierliche Dame verlauten. Ein total vorgeplantes Event ohne spontane und improvisatorische Zufälligkeiten und Herausforderungen in Räucherstäbchen-Idylle: ohrengefälliger Afro-Pop.
In ihrer Art besticht auch die hochgelobte Noa durch Perfektion. Die in New York aufgewachsene Israelin ist wie Ofra Haza („Im Nin‘ Alu“) jemenitischer Abstammung – und vermag so Individuell-Biographisches in ihre künstlerische Ausdrucksskala zu bringen. „I give you everything“ schmachtete sie zunächst, sang dann aber auch frei von semantischen Bedeutungen nur in phonetischen Werten. Hebräisch beherrscht Noa genauso gekonnt wie minimales Spiel auf Perkussionsinstrumenten. Mit Begeisterung ist war sie zum Abschluß der „JazzOpen“ bei der musikalischen Sache, wobei sie in einem von dem Gitarristen Gil Dor geleiteten Ensemble zuverlässige Partner hatte.
Trotz klingender Namen waren die „JazzOpen“ in diesem Jahr nicht ausverkauft. Massive Resonanz kann das Festival jedoch erfahren, wenn die TV-Sender „Südwest BW“, „arte“ und „3sat“ sowie einige Stationen in den USA die digitalisierten Konserven auswerten. Und nicht nur die Veranstalter hoffen, daß der Südwestrundfunk und die zahlungskräftigen Sponsoren, allen voran die Landesbank Baden-Württemberg (LBBW), dem Stuttgarter Sommer-Jazz in der Liederhalle die Treue halten.