Stuttgart. – Auch das zweite „jazzige“ Bach-Konzert des diesjährigen Musikfests stieß auf begeisterte Resonanz. In der vollbesetzten Leonhardskirche hatten sich zahlenmäßig gewiss mehr Bachakademiker als Jazzfans eingefunden, um einer eineinhalbstündigen Aufführung zu lauschen, die sich auf die h-Moll-Messe des Thomas Kantors bezog. Der gewiefte Komponist Patrick Bebelaar bediente selbst Flügel sowie Clavichord und wurde musikantisch unterstützt von fünf weiteren renommierten Instrumentalisten der Jazz-Szene.
Aus eigenem Antrieb nahm Patrick Bebelaar 1999 im Tonstudio eine „Passion“ auf, die bereits eine eigenwillige Version des Chorals „O Haupt voll Blut und Wunden“ beinhaltete. Schon damals war klar, dass dies eigentlich auch für Helmuth Rilling höchst interessant sein durfte. Für 2002 erhielt Bebelaar dann von der Backakademie tatsächlich einen Kompositionsauftrag. Darin setzte er sich kritisch mit Beethoven auseinander und zeigte samt indischen Musikern konstruktiv auf, dass der egozentrische Komponisten-Titan aus Bonn zu wenig die Kulturen der weiten Welt beachtete.
Bei seinem „Pantheon“ bezieht sich Bebelaar auf die nach römisch-katholischem Ritus gehaltene h-Moll-Messe des größten evangelischen Kirchenmusikers. Religiöse Toleranz setzte der 1971 in Trier geborene Musiker nun in Klang um. Nach eigenem, Bekunden verwendete er so u.a. „Motive aus dem Judentum und dem Sufi-Gesang des Islam“ sowie „musikalische Ausdrucksweisen des Buddhismus und Hinduismus“. Keineswegs hat Patrick Bebelaar irgendein neues Arrangement der h-Moll-Messe geschaffen, vielmehr ließ er sich von dem 1750 letztlich zusammengefügten Werk inspirieren.
So kommt Patrick Bebelaar ganz ohne Worte aus – bis auf eine Stelle. Da darf der Sarde Carlo Rizzo, der ansonsten aus seinen diversen Tamburins bei aberwitzigen Rhythmen einen verblüffende Klangfarbenreichtum herausholte, schmachtend ein „Gloria“ singen. Kein Text beispielsweise auch beim „Credo“ oder beim „Agnus Dei“ – höchstens ein paar mehr oder weniger versteckte Motivübernahmen von Johann Sebastian Bach.
Es erscheint beispielsweise ein gebrochener Mollakkord mit integrierter Quarte als Riff, über das man intensiv improvisieren kann. Schön auch immer wieder, wenn im Ensemble auf swingender Grundlage barocke Polyphonie auflebt, erst recht reizvoll in der Fugenform. Fulminant ebenfalls, wie erneut „O Haupt voll Blut und Wunden“ intoniert wird und mittendrin Fried Dähn auf seinem elektrifizierten Cello samt aufkreischenden Rückkopplungseffekten an die aufklärerische Auseinandersetzung des Gitarristen Jimi Hendrix mit der amerikanischen Nationalhymne (Woodstock-Festival von 1969) erinnert. Da muss der Cellobogen ordentlich Haare lassen…
„Pantheon“ begann, den natürlichen Nachhall des Kirchenschiffs ausnützend, mit dem vom Vatikan lange Zeit regelrecht verbotenen Tritonus-Intervall. Alsbald befand man sich in einer regional kaum zu ortenden Globalmusik: Phrygisches aus Spanien? Skalen vom arabischen Raum? Pentatonik aus Japan? Locker und impressionistisch kam dies jedenfalls daher, und der in Frankreich geprägte Begriff der „imaginären Folklore“ zwängte sich wieder auf. Einer deren Vertreter ist Michel Godard, der wie gewohnt schnelllippig in seine Tuba blies und zudem ein historisches Serpent mitbrachte.
Die individuelle Note ging bei der ehrfurchtsvollen Reverenz an Bach auch nicht bei Frank Kroll und Herbert Joos verloren. Kroll, der langjährige Partner von Bebelaar, spielte da dramatisch auf der Bassklarinette und ließ das Sopransax süßer klingen. Einfühlsam auch Herbert Joos auf dem luftigen Flügelhorn, der durch Dämpfer geschärften Trompete und dem obligatorischen Alphorn.
Patrick Bebelaar griff nicht in die Tasten der in der Leonhardskirche festinstallierten Orgel. Vielmehr langte er gerne in die Saiten des Flügels und dämpfte per Hand auch mal den Klang des Clavichords ab, das allerdings mächtig elektronisch verstärkt wurde. Enthusiastischer Zwischenapplaus nach mitreißenden Solo- und Tutti-Beiträgen und zum Schluss geradezu frenetischer Beifall.
Das Konzert wird gesendet auf SWR 2 am 29. Dezember, 19.05 Uhr.
(September 2005)