GerMANY – Vielfalt aus deutschen Landen – Albert Mangelsdorff war stets präsent
Für die 21. Ausgabe seines Osterjazz-Festivals hatte Werner Schretzmeier den Begriff „GerMANY“ neu gedeutet: die letzten fünf Buchstaben schrieb er ganz groß „MANY“. Die Vielfalt im deutschen Jazzleben wollte er damit herausstellen. Und dies bedeutet – neben stilistischer Breite – wiederum auch Internationalität. Wolfgang Dauner, am 30. Dezember 2005 runde 70 geworden, gilt als Paradebeispiel hierfür. In den 60er Jahren noch ein „enfant terrible“ der schwäbischen Jazzszene, hat er mit dem Kulturleben längst in lieblicher Tonalität seinen harmonischen Frieden geschlossen.
Jetzt kam sogar Ministerpräsident Günther Oettinger (samt obligatorischer Body-Guards) zum Eröffnungskonzert ins Theaterhaus, um Dauner erneut die Ehre zu erweisen. Wochen zuvor hatte er dem Musiker bereits das Bundesverdienstkreuz ausgehändigt. Freilich ist Oettinger nicht der erste baden-württembergische Landesvater, dessen Rede bei einer Jazzveranstaltung mit Gejohle von widerborstigen Swing-Kids bedacht wurde. Lothar Späth ging es schon Anfang 1980 beim offiziellen Preisträgerkonzert von „Jugend jazzt“ so…
Solo am Flügel erwies Dauner romantisierend George Gershwin seine Reverenz. Interessant war, wie der Komponist der Ohrwürmer von „TransTanz“ und „Wendekreis des Steinbocks“, wieder mit dem französischen Geiger Jean-Luc Ponty die chromatisch-rhythmisch vertrackte Nummer „Sketch Up And Downer“ interpretierte. Eine Reminiszenz an die neutönerische Suite namens „Free Action“ die beide vor fast vierzig Jahren, genau genommen am 2. Mai 1967 im Stuttgarter Mozartsaal, uraufführten. Über Jahrzehnte währende Freundschaften wurden an diesem Abend ausführlich gepflegt, so auch die Reunion eines subtilen Trios mit dem argentinischen Bandoneon-Virtuosen Dino Saluzzi und dem Altsaxofonisten Charlie Mariano. Eine Freude, wie beseelt immer noch der 82jährige Amerikaner bläst.
Vom Klangbild des United Jazz & Rock Ensembles ist Mariano eigentlich nicht wegzudenken, und das treue Publikum zeigte sich dankbar, die zwischenzeitlich schwer an Parkinson erkrankte Barbara Thompson mit gewohnter Vehemenz am Tenorsaxofon improvisieren zu hören. Verzichten muss man aber endgültig auf Albert Mangelsdorff und Volker Kriegel, die nach auszehrenden Krebsleiden verstorben sind.
Den erklärten Höhepunkt der von Februar bis April 2006 laufenden „Dauner Around“-Festivitäten in Stuttgart bildete die „Feuerwerxmusik“. Zu dem feierlichen Händel-Opus fügte Wolfgang Dauner nun spezielle Streicherpassagen für das Stuttgarter Kammerorchester hinzu. Ohne sinfonischen Plüsch darf heutzutage offenbar ja kein Jazzer mehr Geburtstag feiern – auch Bassist Eberhard Weber hatte bei seinem 65. bei den vorjährigen Theaterhaus-Jazztagen einen noblen Klassik-Klangkörper hinter sich.
Zu Zeiten vom legendären Karl Münchinger hätte man dessen Stuttgarter Kammerorchester nicht zugetraut, so grenzenlos zu agieren. Aber der Zwist zwischen Jazz und Klassik gehört – nicht nur bei Händel – der Vergangenheit an. Als jazzfreie Dreingabe offerierten die Streicher unter dem Dirigat der jungen Koreanerin Yun Sun Kim Bela Bartoks „Divertimento“. Weniger ein „allegro barbaro“ als ein Mikrokosmos von zarten Klängen.
In der ebenfalls ausverkauften „T2“-Halle traten zeitgleich zum Hauptevent beim „Festival spezial“ zwei Kleinformationen auf. Die in Thüringen aufgewachsene Lyambiko gehört zu der Sorte von Vokalistinnen, die mit Schmuse-Jazz über beste CD-Verkaufszahlen verfügen, jedoch es an unmittelbarer Kreativität im Improvisationsbereich missen lassen. Aktionistisch und hektisch dagegen führte sich der umtriebige Trompeter Joo Kraus mit seiner „Basic Jazz Lounge“ auf.
Auch beim zweiten Abend der Jazztage im Theaterhaus zeigte es sich, dass keiner US-Superstars bedarf, um die Säle zu füllen. Man setzte da auf künstlerische Stammgäste, die in Kleinstformationen auftraten. Zunächst nochmals Charlie Mariano, der ja gerne im Duo mit einem Kontrabassisten kommt. Nicht Ali Haurand oder Vitold Rek war nun in Stuttgart sein nuancierter Partner, sondern Dieter Ilg. Schöne gediegene Musik, und dem 1923 in Bosten geborenen Altsaxofonisten, der einst noch mit Charlie Parker spielen durfte, musste man keineswegs einen Altersbonus zubilligen – und zeitlos und zierlich, fit und flüssig wirkt seine Musik immerdar.
Kammermusikalische Gediegenheit strahlte ebenfalls das bewährte Trio mit dem Pianisten Richie Beirach und Gregor Hübner an der Violine sowie dessen Bruder Veit am Bass aus. Wieder einmal nahmen sie sich in Kompositionen und Zitaten europäische Klassiker vor: von Bach über Bizet bis zu Bartok. Keine spektakuläre Aktionen, sondern Jazzerfahrung und E-Musik homogen verbunden.
Rabih Abou-Khalil ist ein alter Freund des Theaterhauses. Nun brachte der in München lebende libanesische Oud-Virtuose als Neuheit seiner Formation den in Leipzig geborenen Pianisten Joachim Kühn mit, der auch zum Saxofon griff. Dritter im Ethno-Bunde war der amerikanische Perkussionist Jarrod Cagwin.
Mit „Goldkehlchen“ betitelte Werner Schretzmeier das Hauptkonzert am Ostersamstag. Die Mannsbilder improvisierten dabei heftig, während die Damen es bei den – immerhin etwas verzierten – Vorstellungen der Themen beließen. Der aus Erlangen stammende Torsten Gutknecht alias Gutknecht kombinierte da präzise Gitarrenläufe homophon mit Scat-Melodien. Eine unschuldig wirkender 25jähriger Tenor vorneweg und ein fetzendes Sextett im Hintergrund, wobei die Bläser an „Blood, Swaet & Tears“ gemahnten. Mehrfach besann sich Goods auf das musikalische Erbe seiner aus Nordirland stammenden Mutter.
Viel Brasilianisches und auch etwas Japanisches präsentierte der sich ebenfalls auf der Gitarre begleitende Stimmakrobatiker Peter Fessler. Mühelos wechselte er da bei seinen Instrumentimitationen vom Bass zum Falsett und konnte die Vorbilder Al Jarreau und Bobby McFerrin nicht verleugnen. Gast Joo Kraus demonstrierte, dass er die Trompete auch weich und balladesk einzusetzen vermag.
Die NDR Big Band lässt sich stets reizvolle Projekte einfallen. Jetzt präsentierten die Hamburger drei bekannte Sängerinnen mit durchweg deutschen Liedtexten im großorchestralen Jazz-Rahmen. Am variabelsten und versiertesten gab sich hier die Jüngste: Lisa Bassenge aus Berlin mit Songs von Hildegard Knef, Nena und Herbert Grönemeyer. Selbst die Worte zu den Kompositionen von Freundeskollegen hatte Ulla Meinecke gefunden. In den gewitzten Arrangements von Dirigent Ralf Schmid erhielten die leicht rockenden Hits einen swingenden Anstrich.
Schließlich noch Inga Rumpf, die in den 60er Jahren ihre Karriere mit Folk bei den „City Preachers“ der Hansestadt begann. Inhaltlich „Wassermusik“ bei allen drei vorgetragenen Lieder: „Dock of the Bay“ (Marvin Gaye), „My Ship“ (Kurt Weill) und „La Mer“ (Charles Trenet). Zum Finale eine holprige Session des Terzetts über den jiddischen Schlager „Bei mir bist du schön“.
1986 hieß das Motto beim Theaterhaus-Festival „Jazzstadt Stuttgart“. Genau zwei Jahrzehnte später wurde ebenfalls das swingend-improvisatorische Treiben der Region gewürdigt. Beispielsweise mit der Gruppe „Eleven“ des Pianisten Rainer Tempel, mit Obi Jennes „Band In The Box“, mit dem Sextett „Young Friends“ oder mit einer Ostersonntagsmatinee extra für Kinder. Der „Hoppel Hoppel Rhythm Club“ hatte die Jazz-Rezipienten von morgen im Visier.
Einen so großen Triumph hat das baden-württembergische Jugendjazzorchester in seinem eigenen Ländle wohl noch nie verbuchen können. Ausgerechnet beim eigenen Ständchen zum 25. Bestehen spielten die Youngsters beim furiosen Festival-Finale äußerst professionell und mit enormer stilistischer Breite auf. Zusätzlich motivierend war hierbei wohl, dass vormalige Bandmitglieder, die mittlerweile stolze Karriere gemacht haben, als solierende Gäste fungierten.
„Das ist ein sehr guter Anfang“ bemerkte der aus Amerika stammende Posaunist Jiggs Whigham am Ende der zweiten Gesamtprobe des ganz neu konstituierten Landesjugendjazzorchesters Baden-Württemberg. Ort und Zeit der Handlung damals: die Bundesakademie Trossingen im April 1981. Wie Recht sollte doch der berühmte Kölner Jazz-Professor haben, den die Talente sogleich auch noch duzen durften. Mittlerweile haben die swingenden Landeskinder weltweit Zeugnis ihres interpretatorischen und improvisatorischen Könnens abgelegt. Vor allem durch Afrika und Südostasien führten die zahlreichen Tourneen.
Alsbald wurde der an der Stuttgarter Musikhochschule dozierende Saxofonist und Komponist Bernd Konrad, inzwischen ebenfalls ein nobler Professor, zum ständigen Leiter dieser renommierten Big Band gewonnen. Jugend muss Jugend bleiben – und das heißt „rotierendes System“. Denn mit 25 Jahren werden die Instrumentalisten (und Vokalistinnen) sozusagen „in Rente“ geschickt. Daher ist stete Aufbauarbeit zu leisten. Neuentdeckungen werden zumeist bei dem alle drei Jahre durchgeführten Wettbewerb „Jugend jazzt“ gemacht. Auch diese Einrichtung des Landesmusikrats Baden-Württemberg wird von Marie-Luise Dürr (Tuttlingen) liebevoll betreut. Bernd Konrad kann seit langem freudig konstatieren, dass das technische und künstlerische Niveau des Nachwuchses immer besser wird.
Mit dem Swing-Reißer „It Don’t Mean A Thing“ begann im Theaterhaus der konzertante Reigen und führte über Stücke von Pat Metheny und Joe Zawinul bis zu Bernd Konrads „The Whale“. Der Komponist dominierte die dramatische Nummer über das Schicksal von Moby Dick auf dem klagende Sopransax und dem kräftig knarzenden Baritonsaxofon.
In der aktuellen Besetzung ließen passable Soloimprovisatoren aufhorchen, beispielsweise die Saxofonisten Johannes Ludwig und Viktor Wolf. Der Drummer Holger Nell, die Saxofonisten Andy Maile und Klaus Graf sowie der dirigierende Trompete dankten für ihre Lehrjahre in dieser Großformation mit Instrumentalbeiträgen. Und seinen Spaß und die Bewunderung verhehlte auch Jiggs Whigham nicht.
Mit „Offenen Zweierbeziehungen“ hatte der letzte Festivaltag begonnen. Heinz Sauer, einst der stürmisch und drängende Tenorist im Albert-Mangelsdorff-Quintett, hat von seiner herzlich zupackenden Art nichts verloren. Mit dem Pianisten Michael Wollny als Juniorpartner versteht er sich glänzend, und sie bringen die musikalische Essenz in ihren doch ziemlich freien Improvisationen auf den Punkt. Von Gershwins „Summertime“ schimmerten da lediglich die harmonischen Eckpunkte durch, Thelonious Monk wurde mit Leichtigkeit vereinnahmt. Wie ein roter Faden durchzog das Gedenken an den im Juli letzten Jahres verstorbenen Albert Mangelsdorff die Jazztage. Sauer und Wollny musizierten dessen „Certain Beauty“.
Der aus der Ukraine stammende Tastenkünstler Simon Nabatov präsentierte sich nun im Duo mit dem Posaunisten Nils Wogram. Dessen Huldigung an Albert den Großen war das Spiel mit Interferenztönen, die durch gleichzeitigen Singen und Blasen entwickelt werden.
In Richtung Neuer Musik und szenischen Gags ging es bei zwei gar nicht so zimperlichen Damen, die vor drei Jahrzehnten in Deutschland ihr neues Zuhause fanden: die amerikanische Vokalistin Lauren Newton und die japanische Pianistin Aki Takase. Lauren Newton ist in der Sparte „Gesang im Jazz“ eines der wenigen weiblichen Wesen, bei dem das absolute individuelle Improvisieren allerhöchste Wichtigkeit genießt – eine Wohltat. Geräuschhaftes, Perkussives, Klangfarbenchangierungen und Obertonauslotungen kommen da gleichermaßen zum Zuge. Hart ging Aki Takase zu Werke und sparte nicht mit prallen Clustern. Ein Billardspiel mit Tischtennisbällen im Flügelinneren bildete ein besonderes Erlebnis der akustischen Art.